Chat-Dienste Politiker dringen als Konsequenz aus Wirecard-Skandal auf mehr Kontrolle über Telegram

Die Wirecard-Vorstände nutzten den Chat-Dienst Telegram, um Geschäfte zu organisieren. Der flüchtige Jan Marsalek auch noch nach dem Zusammenbruch des Konzerns.
Düsseldorf Rund ein Jahr nach der Insolvenz des Zahlungsdienstleisters Wirecard wird in der Politik als weitere Konsequenz nun der Ruf nach mehr Regulierung von kaum überwachten Chat-Apps wie Telegram lauter. Linken-Politiker Fabio De Masi fordert mehr Kontrolle über den Kommunikationsdienst: „Trotz Datenschutz: Wenn es bei Telegram Anhaltspunkte für schwere Straftaten gibt, sollten staatliche Behörden mit richterlicher Anordnung auf betreffende Inhalte zugreifen können“, sagt der Politiker, der auch im Wirecard-Untersuchungsausschuss saß.
Die ersten Bemühungen laufen schon. Das Bundesamt für Justiz hat gerade versucht, Kontakt mit Telegram aufzunehmen, da es kaum möglich sei, Beschwerde über strafbare Inhalte einzulegen. Zudem sei nicht klar, wohin sich Gerichte wenden könnten, wenn jemand juristisch gegen das Unternehmen vorgehe. Zwei Anhörungsschreiben wurden in die Vereinigten Arabischen Emirate versendet.
Das sei ein erster wichtiger Schritt, findet auch Matthias Hauer, CDU-Obmann im Wirecard-Untersuchungsausschuss: „Ich begrüße, dass sich auch Telegram – wie Facebook, Twitter und Tiktok – den Anforderungen des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) beugen muss. Zukünftig müssen strafbare Inhalte nach Bekanntwerden zeitnah gelöscht und dem Bundeskriminalamt (BKA) gemeldet werden.“
Telegram auf Wirecard-Firmenhandys vorinstalliert
Der Zahlungsdienstleister Wirecard war im Juni 2020 nach Bekanntwerden milliardenschwerer Luftbuchungen zusammengebrochen. Die Staatsanwaltschaft München I ermittelt unter anderem wegen bandenmäßigen Betrugs, Untreue und Marktmanipulation.
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Bei Wirecard war Telegram so beliebt, dass die Führung die App auf Firmenhandys vorinstallieren ließ. So wurde der Dienst schon vor Jahren am Unternehmenssitz in Aschheim zum bevorzugten Kommunikationsmittel. „Kannst du bitte kurz Telegram checken“, schrieb eine Mitarbeiterin etwa am 27. Juli 2016 an Produktvorständin Susanne Steidl.
Ihr Vorstandskollege Jan Marsalek, der bis heute auf der Flucht ist, lenkte gezielt Diskussionen vom Mailserver des Unternehmens auf den russischen Dienst um. Am 15. Februar 2018 schrieb er einem Geschäftspartner in Toronto: „Kann ich dich auf Telegram erreichen, um das weiter zu diskutieren?“
Wer nicht mitzog, spürte sanften Druck. „Eigentlich wollte ich es Dir auf Telegram senden, habe Dich da aber nicht gefunden…“, schrieb die Assistentin von Markus Braun am 24. April 2020 an einen Mitarbeiter. Wenn er beabsichtige, in Zukunft mit dem Vorstand zu kommunizieren, solle er die App „dringend“ installieren.
Telegram gilt als sicher verschlüsselter Kommunikationskanal und wird vielfach für geheime Nachrichten verwendet – mitunter von Kriminellen, aber etwa auch von Oppositionsgruppen in Weißrussland. So kam nicht einmal die deutsche Staatsanwaltschaft an die internen Chats der Wirecard-Führungsriege heran. Für Gruppen, in denen nur die Administratoren Nachrichten veröffentlichen, lässt Telegram eine unbegrenzte Zahl von Teilnehmern zu. Telegram wurde in Russland gegründet, siedelte aber um, als die dortige Regierung Zugriff auf Nutzerdaten verlangte.

Pawel Durow gründete 2013 gemeinsam mit seinem Bruder Nikolai den Messengerdienst Telegram.
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Cloud-Speicherung ermöglicht Löschung der Chats
Das größte Pfund des Dienstes ist der Schutz dessen, was die Nutzer damit treiben. Die Betreiber speichern Nachrichten auf weltweit verteilten Servern. Zum „Schutz der privaten Gespräche vor schnüffelnden Dritten, wie zum Beispiel Behörden und Arbeitgebern“, schreibt Telegram auf seiner Website. „Es gibt keine Möglichkeit für uns oder jemand anderen ohne direkten Zugriff auf Ihr Gerät zu erfahren, welche Inhalte in diesen Nachrichten gesendet werden.“
Sicherheitsexperten haben daran Zweifel. „Telegram ist ein synchronisierter Cloud-Messenger, bei dem die Chatinhalte standardmäßig nicht Ende-zu-Ende verschlüsselt sind“, sagt Ayten Öksüz von der Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen. „Das heißt, diese Nachrichten werden irgendwo in einer Cloud beziehungsweise auf Servern von Telegram gespeichert und könnten theoretisch auch von Dritten, die sich Zugriff verschaffen, gelesen werden.“
Dennoch: Die Cloud-Speicherung macht die Funktion möglich, die unter anderem auch Marsalek nutzte: Ein Teilnehmer kann einen Chat nicht nur für sich selbst, sondern auch für sein Gegenüber löschen. Es ist nicht bekannt, wie viele Nutzer den Dienst im Cloud-Modus nutzen und wie viele auf die „geheimen Chats“ ausweichen, die Telegram auch anbietet. Dort werden Nachrichten ausschließlich auf zwei Endgeräten gespeichert.
Bei Wirecard habe die interne Kommunikation kurz vor dem Zusammenbruch „zu 90 Prozent“ über Telegram stattgefunden, erklärte Marsaleks Assistentin jüngst im Untersuchungsausschuss. Marsalek habe so selten seine E-Mails gelesen, dass sie wirklich wichtige Nachrichten herausfilterte und ihn über Telegram auf diese hinwies. Er habe Telegram irgendwann als seinen „Lieblingskanal“ ausgewählt und die Belegschaft mitgezogen. Der Dienst sei der einzige Weg gewesen, ihn zu erreichen. „Also war das unser Kanal.“
2019 vereinbarte Wirecard zudem eine Kooperation mit TON Labs, dem Entwickler des dezentralen Telegram Open Networks. Später investierte Marsalek laut Gerichtsunterlagen persönlich sieben Millionen Dollar in eine digitale Währung, die Telegram herausbringen wollte. Der Plan scheiterte, im Juli 2020 verdonnerte die US-Börsenaufsicht SEC Telegram dazu, mehr als eine Milliarde Dollar zurückzuzahlen, die das Unternehmen von Investoren eingesammelt hatte.
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