Finanzbranche Bleibt das Euro-Derivategeschäft in London? Gutachten warnt vor enormen Risiken

In der britischen Hauptstadt wird bislang die Mehrzahl der Euro-Derivategeschäfte abgewickelt.
Frankfurt, Berlin In zehn Monaten tritt Großbritannien aus der Europäischen Union aus. Und eine der wichtigsten Fragen für den Finanzsektor ist nach wie vor ungeklärt: Dürfen Geldhäuser Derivategeschäfte in Euro auch nach dem Brexit in London abwickeln? „Das Thema ist bei allen Banken Priorität Nummer eins“, sagt Raimund Röseler, der oberste Bankenaufseher der Finanzaufsicht Bafin. „Wenn das Londoner Clearinghaus nicht mehr als gleichwertig anerkannt wird, müssen die Geschäfte in die EU 27 verlagert werden, ohne dass es dabei zu Unfällen kommt.“
Doch ein Verbleib des Euro-Clearings in London wäre für die Finanzstabilität noch gefährlicher, warnt ein bisher unveröffentlichtes Gutachten für die hessische Landesregierung. Es stammt von Volker Brühl vom Frankfurter Center for Financial Studies und liegt dem Handelsblatt vor.
Der Finanzprofessor plädiert darin für eine einheitliche Regulierung von Banken und Clearinghäusern in der EU. „Denn wenn es zu einer Schieflage eines Clearinghauses kommt, hätte das große Auswirkungen auf die europäischen Banken“, betont Brühl. „Auch die Geldpolitik der EZB würde massiv beeinflusst.“
Der Geschäftsumfang ist gewaltig
Clearinghäuser stehen zwischen Käufern und Verkäufern und springen ein, wenn einer der Handelsteilnehmer ausfällt. Nach der Finanzkrise hat die Politik beschlossen, mehr Geschäfte über Clearinghäuser abwickeln zu lassen. So soll die Transparenz und Sicherheit des Finanzsystems erhöht werden.
Infolge der neuen Regeln sind die Clearinghäuser selbst zu systemrelevanten Institutionen geworden. Der Geschäftsumfang ist gewaltig: Allein bei täglich abgewickelten Zinsderivaten in Euro beträgt das Volumen rund 1.000 Milliarden Euro. Der Großteil davon entfällt auf das Londoner Clearinghaus LCH.
Nach der Brexit-Entscheidung ist eine intensive politische Debatte entbrannt, ob das Euro-Clearing nach dem EU-Austritt Großbritanniens in London verbleiben kann. Eine endgültige Entscheidung zu dem Thema gibt es noch nicht. Doch die Stimmen in Brüssel, die sich für eine politisch erzwungene Verlagerung in die EU aussprechen, sind leiser geworden.
Die EU-Kommission und das Europaparlament halten es für ausreichend, wenn LCH von EU-Behörden in London kontrolliert werden kann. „Solange umfassende Durchgriffsrechte der europäischen Aufsicht sichergestellt sind, ist der physische Standort des Clearinghauses nachrangig“, sagt Europaparlamentarier Markus Ferber (CSU). Zudem bleibe die Option des Lizenzentzugs für Clearinghäuser, die sich nicht an EU-Regeln halten, als Ultima Ratio auf dem Tisch.
Auch Lothar Binding, der finanzpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, ist mit dem Verhandlungsstand in Brüssel zufrieden. „Es besteht zwar kein Zwang für einen Umzug, aber wenn Risiken für die Finanzstabilität bestehen, kann eine Verlagerung des Standorts in die EU verlangt werden“, betont er.
Finanzprofessor Brühl fordert in seinem Gutachten ein konsequenteres Vorgehen. Dass europäische und britische Aufsichtsbehörden LCH zusammen kontrollieren, birgt aus seiner Sicht Risiken. „Wenn es zu einer Krise kommt, funktioniert eine kooperative Aufsicht nicht.“ Dann liege die Entscheidungshoheit über LCH am Ende bei der Bank of England.
Bundesbank-Vorstand Joachim Wuermeling teilt die Sorgen. „Wenn ich mir das ganze Konstrukt betrachte, verbleibt mir als Aufseher nach wie vor ein Unbehagen, wenn ich zwar informiert werde, aber letztlich nicht eingreifen kann“, sagte er der Nachrichtenagentur Reuters.
Warnung vor Risiken für die EZB
Brühl warnt in seinem Gutachten zudem vor gewaltigen Risiken für die EZB. Wenn es zur Schieflage eines Clearinghauses komme, müsse die EZB Liquidität bereitstellen, um einen Dominoeffekt zu verhindern.
„Dabei geht es um riesige Beträge, die natürlich die EZB-Geldpolitik beeinträchtigen würden“, sagt der Professor. Zudem könne der Repo-Markt in Mitleidenschaften gezogen werden, der für die Transmission geldpolitischer Entscheidungen in der kurzen Frist wichtig sei. „Es könnte dann wie in der letzten Finanzkrise dazu kommen, dass der Geldmarkt austrocknet, auf dem sich Banken untereinander Geld leihen.“
Ein weiterer „Infektionskanal“ seien die Sicherheiten, die Banken bei Clearinghäusern hinterlegen müssen, beispielsweise Staatsanleihen. Wenn Clearinghäuser Abschläge auf Sicherheiten vornehmen, kann das krisenverstärkend wirken, so geschehen bei spanischen Bonds in der Euro-Schuldenkrise 2011.
„Die Zinsen für die spanischen Staatsanleihen sind daraufhin weiter gestiegen, und es kam zu einer verstärkten Nachfrage nach Zentralbankgeld durch spanische Banken, die spanische Staatsanleihen als Sicherheiten bei LCH hinterlegt hatten“, berichtet Brühl.
Sorgen in Hessen
Die hessische Landesregierung sieht sich durch das unabhängige Gutachten, für das kein Geld geflossen ist, in ihrer Auffassung bestärkt, dass es zu einer Verlagerung des Euro-Clearings kommen muss. Die EU müsse Schieflagen von Clearinghäusern im Vorfeld vermeiden und im Notfall im Sinne der Finanzstabilität managen können, sagte der hessische Finanzminister Thomas Schäfer dem Handelsblatt.
„Beides kann in London nach dem Brexit nicht gelingen.“ Unterstützung bekommt Schäfer von Antje Tillmann, der finanzpolitischen Sprecherin der Unions-Bundestagsfraktion. Hohe Aufsichtsstandards ließen sich einfacher gewährleisten, wenn der Sitz des Clearinghauses in der Euro-Zone sei, betonte sie.
Schäfer rechnet damit, dass die EU am Ende von der Möglichkeit Gebrauch machen wird, Geschäfte aus London abzuziehen. „Ich gehe davon aus, dass es – notfalls zwangsweise – zu einer Verlagerung erheblicher Teile der Clearingvolumina in die EU 27 kommen wird.“ Chancen rechnen sich dabei vor allem die Deutsche-Börse-Tochter Eurex Clearing in Frankfurt und eine Pariser LCH-Schwester aus.
Frankfurt hat aus Sicht von Schäfer zwar eine hervorragende Ausgangsposition. „Mich treibt jedoch die Sorge um, dass am Ende nicht die besseren Sachargumente, sondern das aggressivste Marketing über künftige Clearingstandorte in der EU entscheiden“, erklärte der Finanzminister. Diese Erfahrung habe er bereits bei der EU-Bankenbehörde Eba gemacht. Sie zieht von London nach Paris – und nicht nach Frankfurt.
„Ich appelliere daher an die Bundesregierung, dass sie dem Thema höchste Priorität einräumt“, sagte er. „Mit der europäischen Finanzstabilität steht ein hohes Gut auf dem Spiel – und im Standortwettbewerb ist Passivität ein schlechter Ratgeber.“
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