Interview Ökonomie-Professor: „Wer jeden Tag ins Depot schaut, wird verrückt“

Ein Händler an der Wall Street. Die starken Kursschwankungen setzen viele Aktionäre unter Stress.
Frankfurt Das Coronavirus hält die Weltbörsen in Atem. Erst rauschten die Märkte tagelang rasant abwärts, dann drehten die Kurse zuletzt wieder deutlich ins Plus – um dann wieder stark zu schwanken. Wie ein Jo-Jo springen die Kurscharts der Indizes derzeit auf und ab.
Für Anleger bedeutet das ein ungeahntes Wechselbad der Gefühle, das die Nerven arg strapaziert. Hat die Erholung begonnen? Oder eher nicht? Wie sollten Aktionäre umgehen mit den persönlichen Befindlichkeiten, wenn es jetzt um Anlageentscheidungen geht?
Ein Interview mit dem Frankfurter Ökonomie-Professor Sebastian Ebert, der sich mit der Psychologie von finanziellen und anderen risikobehafteten Entscheidungen beschäftigt, über den Herdentrieb der Börsen und die Frage, ob Gefühle ein guter Ratgeber sind.
Herr Ebert, die Börsen sind wegen des Coronavirus im Panikmodus. So schnell und deutlich sind die Aktienkurse seit Jahrzehnten nicht hin und her gesprungen. Ist das irrationales Herdenverhalten – oder angemessener Pessimismus?
Nun, das ist die 100-Dollar-Frage. Letztlich geht es dabei um die Grundsatzentscheidung, ob der Fundamentalwert der Firmen so stark gesunken ist, wie die Kurse dies gerade suggerieren. Das hängt aber sehr davon ab, wie lange dieser wirtschaftliche Stillstand, den wir gerade erleben, anhält. Wie massiv lässt das die Umsätze der Firmen zurückgehen? Das ist schwer zu sagen. Wenn zum Beispiel bald ein effektiver Impfstoff gefunden wird, werden alle sagen, die Börse habe überreagiert. Aber wenn sich die aktuelle Situation über viele Monate hinzieht oder sich verschlechtert, dann wird die Wirtschaft in der Tat einen substanziellen Schaden davontragen und den beobachteten Absturz rechtfertigen.
Der verstorbene Finanzexperte André Kostolany hat gesagt, die Börse werde zu 90 Prozent von Emotionen geleitet. Sind es derzeit 100 Prozent?
Nein, das glaube ich nicht. Schließlich herrscht momentan eine große Unsicherheit – und dieses Risiko wollen viele nicht tragen. Das ist also durchaus ein rationales Anlageverhalten. Und es ist ja auch real, dass sich die Wirtschaftsaussichten vieler Firmen quasi über Nacht drastisch verschlechtert haben. Gleichwohl sind nicht alle Aktien gefallen. Die des Videokonferenzanbieters Zoom Video Communications zum Beispiel ist gestiegen, was vernünftig erscheint. Allerdings ist es fundamental schwer zu erklären, dass ein Internetgigant wie Alphabet im Laufe eines Tages rund zehn Prozent seines Wertes verliert. Da sind die Ausschläge sicher auch von Psychologie getrieben.
Börsen sind nicht komplett rational, und Anleger handeln nicht rational, lautet ein Lehrsatz Ihrer Forschungsdisziplin. Ist Panik in der Krise mitunter durchaus ein guter Ratgeber?
Nein. Wir propagieren eine langfristige Geldanlage, die sich nicht nach kurzfristigen Ereignissen ausrichtet. Wenn Sie nicht in der Lage sind, am Börsenmarkt auch mal einen Absturz auszuhalten, dann sind Sie falsch am Platz. Wenn ich Aktien kaufe, sollte ich bereit sein, mich auf mindestens zehn bis 15 Jahre als Anlagehorizont einzulassen. In diesen Zeiträumen wurden in der Vergangenheit auch stets starke Aussetzer nach unten wieder wettgemacht. Auch wenn die Börse jetzt einbricht, ändert sich aus dem Blick der Wissenschaft nichts am langfristigen Erfolg dieser Strategie. Allerdings werden momentan die Nerven der Anleger auf die Probe gestellt.
Sie empfehlen also Anlegern, sich in Geduld zu üben?
Ich rate prinzipiell dazu, bei der Geldanlage in langfristigen Zeiträumen zu denken. Investoren mussten nach einem mehr als zehnjährigen Bullenmarkt damit rechnen, dass es auch steil bergab gehen kann. Wer das nicht ertragen kann, hätte besser gar nicht am Markt investieren sollen. Nachhaltige Anleger sollten deshalb auch jetzt nichts an ihrer Strategie ändern. Für Spekulanten mögen andere Regeln gelten. Aber wer einen langen Atem hat, der hat in der Vergangenheit an der Börse stets eine Eigenkapitalrendite von fünf bis acht Prozent eingefahren. Selbst wenn Sie noch im Januar gekauft haben, sollte sich das Investment für Sie über die lange Frist auszahlen.
Welche Fehler sollten die gestressten und verängstigten Anleger jetzt möglichst vermeiden?
Anleger sollten jetzt auf keinen Fall zehnmal am Tag ihr Depot checken. Das bringt nichts – und macht nur nervös. Leider ist es so, dass Kursgewinne bei Investoren nicht so intensiv wahrgenommen werden wie Verluste. Liegt das Depot im Minus, empfinden dies Anleger als viel härter. Deshalb ist es so wichtig, dass man die Geldanlage langfristig betrachtet – und da ging es bisher im Durchschnitt stets deutlich hoch. Wenn Sie aber jeden Tag ins Depot schauen, werden Sie verrückt.

Er ist Professor für Mikroökonomie an der Frankfurt School of Finance.
Gibt es goldene Verhaltensregeln, an die sich Anleger jetzt halten sollten?
Nun, ich glaube, dass das richtige Timing beim Kauf überschätzt wird. Investoren fabulieren gerne vom perfekten Moment und dem richtigen Zeitpunkt, um in den Markt einzusteigen. Das ist aber Unsinn. Niemand kennt diesen Zeitpunkt. Wenn Sie langfristig agieren, können Sie im Prinzip immer einsteigen – am besten mit einem dauerhaften Sparplan. Ob die Kurse bei Beginn hoch oder niedrig sind, ist dann eher zweitrangig. Keiner weiß genau, ob die Aktien in zwei Wochen steigen oder fallen. Wer langfristig dieses Risiko erträgt, wurde historisch jedoch meist damit belohnt, dass er über zehn Jahre eine ordentliche Rendite bekommt. Deshalb ist es richtig, einen Teil seines Vermögens in Aktien zu stecken.
Die Notenbanken haben mit Leitzinssenkungen versucht, die Situation zu beruhigen. Doch das Gegenteil war der Fall. Braucht es in Zeiten der Panik andere Signale an die Börsen?
Das ist schwer zu sagen. Das Vorgehen der Notenbanken hat vielen Marktteilnehmern vor allem vor Augen geführt, wie ernst die Lage ist – deshalb war die Reaktion so schroff. Aber niemand weiß, ob ohne eine solche Intervention der Crash vielleicht nicht noch schlimmer gewesen wäre. Klar ist aber auch, dass die Möglichkeiten der Notenbanken in dieser Krise begrenzt sind. Jetzt ist der Staat gefragt, der klare Signale setzen muss. Die Fiskalpolitik ist jetzt gefragt.
Nützt der Appell der Politik zur Besonnenheit etwas an den Märkten?
Nein, das darf niemand erwarten. Was das Verhalten der Allgemeinheit und des Einzelnen angeht, mag das Einfluss haben. Aber die Märkte sind nicht besonnen, wenn die Politik das gerne hätte.
Selbst Experten sind sich nicht einig, wie gefährlich die Lungenkrankheit Covid-19 ist und wie lange die Ausnahmesituation dauern könnte. Verwirren die unterschiedlichen Informationen die Menschen?
Ja, natürlich schafft das Unsicherheit, wenn verschiedene Experten unterschiedliche Meinungen kundtun. Aber ich finde, in Deutschland wird das derzeit ganz gut gehandhabt. Aber wir können fast alle die Situation nicht selbst gut einschätzen – und müssen auf die Experten vertrauen. Das ist immer unangenehm, weil es uns ein Stück hilflos macht.
Anlegen in Zeiten von Corona: So sollten sich Investoren jetzt verhalten
Was muss geschehen, damit die Börsen sich wieder erholen können?
Die Politik und die Zentralbank müssen gute Voraussetzungen schaffen. Aber damit sich etwas fundamental an der Börse ändert, muss die Unsicherheit weg. Erst wenn die Investoren eine Idee haben, wie lange dieser Ausnahmezustand dauert, werden sich die Märkte wieder etwas beruhigen.
Das starke Schwanken der Kurse stresst viele Anleger. Haben Psychologen gegenüber Wirtschaftsexperten jetzt einen Vorteil an der Börse?
Leider nicht wirklich. Allerdings hilft es als Anlegern, wenn man sich über die psychologischen Mechanismen, die die Börsen in die eine oder andere Richtung treiben, bewusst ist. Der Herdentrieb kann am Aktienmarkt helfen – aber er kann auch massiv in die Irre führen. Vor allem sollte man sich nicht bei der Geldanlage verrückt machen lassen. Legen Sie sich eine auf Dauer angelegte Strategie zurecht, und folgen Sie ihr. Kurzfristiges Hin und Her macht immer die Taschen leer. Also: Schauen Sie nicht jeden Tag ins Depot, sondern agieren Sie besser langfristig und gelassen.
Wann haben Sie selbst das letzte Mal ins Depot geschaut?
Okay, erwischt. Ich habe erst heute in mein Depot geschaut. Aber schließlich muss ich auch wegen Interviews wie diesem wissen, was gerade am Markt passiert. Theoretisch bin ich mir aber bewusst, dass das eigentlich ein Fehler ist.
Herr Ebert, vielen Dank für das Interview.
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