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Zahlungsdienstleister Dax-Konzern am Abgrund: Ein Desaster namens Wirecard

Die verschwundenen Milliarden haben wohl nie existiert. Nachdem der CEO bereits ging, wurde nun ein bereits beurlaubter Vorstand gefeuert. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.
22.06.2020 - 19:08 Uhr Kommentieren
Wirecard kämpft um seine Zukunft – Waren große Geschäftsteile nur Luftbuchungen? Quelle: Bloomberg
BDO in Manila

Die Suche nach den 1,9 Milliarden Euro von Wirecard verlief bei der Bank auf den Philippinen ergebnislos.

(Foto: Bloomberg)

Frankfurt/München Dass sich bei Wirecard gerade einer der größten Finanzskandale in der deutschen Wirtschaftsgeschichte abspielt, zeigt sich Besuchern der Konzernzentrale am Montag erst auf den zweiten Blick. Der Parkplatz direkt vor dem Haupteingang ist abgesperrt – neugierige Gäste braucht der angeschlagene Zahlungsdienstleister derzeit nicht.

Dafür stehen rund um die Zentrale, die etwas versteckt hinter Abstandsgrün und Bahngleisen liegt, Mitarbeiter in kleinen Gruppen zusammen und diskutierten. „Ich gehe davon aus, dass ich mir einen neuen Job suchen muss“, klagt eine Angestellte.

Noch habe es unter den gut 1500 Mitarbeitern in der Zentrale im Münchener Vorort Aschheim keine Entlassungen gegeben. Viele rechnen jedoch damit. Die ersten Freistellungen sollen rund um den Globus bereits erfolgt sein.

Der Grund für die Aufregung ist eine Ad-hoc-Mitteilung, die um kurz vor drei Uhr in der Früh versandt wurde: „Der Vorstand der Wirecard AG geht aufgrund weiterer Prüfungen derzeit davon aus, dass die bisher zugunsten von Wirecard ausgewiesenen Bankguthaben auf Treuhandkonten in Höhe von insgesamt 1,9 Milliarden Euro mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestehen.“

Wirecard sei bisher von der Existenz dieser Konten ausgegangen und habe sie als Aktivposten ausgewiesen.

Dann folgt ein womöglich noch wichtigerer Satz: „Der Vorstand geht außerdem davon aus, dass die bisherigen Beschreibungen des sogenannten Drittpartnergeschäfts durch die Gesellschaft unzutreffend sind. Die Gesellschaft untersucht weiter, ob, in welcher Art und Weise und in welchem Umfang dieses Geschäft tatsächlich zugunsten der Gesellschaft geführt wurde.“

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Die Möglichkeit, dass es sich bei den fehlenden 1,9 Milliarden Euro – immerhin ein Viertel der Bilanzsumme – um einen Betrugsfall handeln könnte, wird damit immer wahrscheinlicher. Gleichzeitig wird ein gravierender Verdacht konkret: Existieren Teile der bisher verbuchten Geschäfte des Konzerns gar nicht?

Wirecard verdient am Transfer von Geld. In Europa besitzt der Konzern eigene Lizenzen, wickelt etwa für Aldi oder die Österreichischen Bundesbahnen Zahlungen ab. Der Wachstumstreiber war jedoch das Asiengeschäft, in Schwellenländern wie den Philippinen oder Indonesien.

Dabei stützt sich Wirecard auf sogenannte Drittpartner, auf ihre Lizenzen und Kontakte; hierfür wurden auch die Treuhandkonten benötigt. Nun steht infrage, ob es das Geschäft in der berichteten Größe überhaupt gab.

Aufseher üben Selbstkritik

Die Schockwellen der nächtlichen Meldung waren am Montag an vielen Orten spürbar. Die Ratingagentur Moody’s entzog Wirecard die Bonitätsnote komplett, weil es zu wenig verlässliche Informationen für eine Bewertung der Kreditwürdigkeit gebe.

Auch auf dem Branchentreffen „Frankfurt Finance Summit“ war Wirecard ein heiß diskutiertes Thema. Felix Hufeld, Chef der deutschen Finanzaufsicht Bafin, äußerte sich selbstkritisch. Er sei entsetzt, dass so etwas passieren konnte in einem Land wie Deutschland, das für Qualität und Zuverlässigkeit stehe: „Es ist ein komplettes Desaster.“

Neben Kritik am Management von Wirecard und an den Wirtschaftsprüfern sei auch Kritik an der Bafin gerechtfertigt, räumte Hufeld ein. „Viele private und öffentliche Institutionen, inklusive meiner eigenen, waren nicht effektiv genug, um so etwas zu verhindern.“

Die Bafin habe im Fall Wirecard zwar diverse Maßnahmen ergriffen, aber nicht mit dem gewünschten Erfolg. Die Bafin versuche nun alles, um die Wirecard Bank zu schützen, betonte Hufeld. „Ich weiß jedoch nicht, ob das von Erfolg gekrönt sein kann, falls die Gruppe insgesamt insolvent gehen sollte.“

Finanzminister Olaf Scholz (SPD) sagte, er sehe wegen des Skandals keine Notwendigkeit für regulatorische Veränderungen. „Ich denke, die Aufsichtsbehörden haben sehr hart gearbeitet“, sagte Scholz. „Sie haben ihren Job gemacht.“

Gleichzeitig wies Hufeld Vorwürfe zurück, die Bafin habe ein deutsches Unternehmen aus patriotischen Gründen vor ausländischen Angreifern schützen wollen, als die Behörde 2019 ein Verbot für Wetten auf Kursverluste verhängte. „Das ist totaler Unsinn.“

Wenn die Bafin Hinweise bekomme, dass Händler durch ihre Positionierung Kurse manipulieren wollten, müsse die Behörde einschreiten. Die Hinweise seien von einer großen deutschen Staatsanwaltschaft gekommen.

Die Staatsanwaltschaft München ermittelt bereits gegen den alten Vorstand wegen Marktmanipulation. Dabei geht es um zwei Ad-hoc-Mitteilungen rund um die Veröffentlichung des Sonderprüfberichts von KPMG. Wirecard hatte im Oktober nach zahlreichen Presseberichten der Zeitung „Financial Times“, die den Verdacht der Bilanzmanipulation genährt hatten, eine Sonderprüfung initiiert. Das im April vorgelegte Ergebnis hatte weitere Zweifel geschürt.

Als der langjährige Abschlussprüfer EY am vergangenen Donnerstag die Jahresbilanz von Wirecard wegen gefälschter Bankbelege nicht testieren wollte, stürzte der Kurs ab.

Der für das Asiengeschäft zuständige Vorstand Jan Marsalek wurde zunächst suspendiert, am Montag wurde sein Vertrag „außerordentlich gekündigt“. Der langjährige Vorstandschef Markus Braun trat zurück und wurde durch den neuen Compliance-Vorstand James Freis ersetzt. Der Amerikaner muss Wirecard nun vor dem Absturz bewahren.

Der alten Führung drohen weitere Ermittlungen. Man prüfe alle in Betracht kommenden Straftaten, erklärte eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft München. Marsalek gilt innerhalb des Konzerns als zentraler Kopf für die Asiengeschäfte.

Der 40-jährige Österreicher sei jeden Monat vor Ort gewesen und habe Kontakte gepflegt, oft allein, berichten Insider. Das Asiengeschäft spielte sich vor allem in Schwellenländern ab, nicht in hochentwickelten Staaten wie Japan oder Südkorea, und galt laut einem Wirecard-Manager innerhalb des Konzerns als eine Art Blackbox.

Treuhandkonten bei philippinischen Banken

Im Zentrum des Skandals stehen Treuhandkonten bei zwei philippinischen Banken. Das Geld sollte eigentlich als Sicherheit für an Händler gewährte Kredite dienen. Weil der bargeldlose Zahlungsverkehr in Asien im Aufschwung ist, soll sich die Summe auf den Treuhandkonten seit 2018 fast verdoppelt haben: von 1,0 auf 1,9 Milliarden Euro.

Im Dezember 2019 wechselte Wirecard von seinem bisherigen Treuhänder in Singapur, Citadelle, zu einem neuen Treuhänder, dem philippinischen Anwalt Mark Tolentino.

Der hat laut ursprünglicher Darstellung auch die Konten bei den philippinischen Banken eröffnet. Diese haben entsprechende Belege jedoch inzwischen als gefälscht identifiziert und verantwortliche Mitarbeiter entlassen.

Bisher hatte Wirecard stets die Rechnung aufgemacht: Die Hälfte des Geschäfts kommt aus Ländern mit eigenen Lizenzen, die andere Hälfte aus dem Drittpartnergeschäft. 2018 kam knapp die Hälfte des Konzerngewinns aus Europa, rund 40 Prozent kamen aus Asien – wobei der Gewinnbeitrag Asiens zuletzt überproportional stark gestiegen ist.

Sowohl das Geschäft mit eigenen Lizenzen als auch das mit Drittpartnern fiel bei Wirecard unter das Segment „Payment Processing & Risk Management“. Es war zuletzt der größte und lukrativste Bereich. Laut der Bilanz 2018 wurde dort ein Gewinn von 481,3 der insgesamt 560,5 Millionen Euro erwirtschaftet. Wie hoch der Gewinnbeitrag des Drittpartnergeschäfts genau war, hat Wirecard nicht ausgewiesen.

Wirecard ist lange verlässlich um rund 30 Prozent pro Jahr gewachsen. Analog zu Umsatz und Gewinn stieg auch das Konzernvermögen an, inklusive der Gelder auf den Treuhandkonten.

Laut den offiziellen Zahlen war das Vermögen in Asien in den vergangenen Jahren kontinuierlich gewachsen, während es in Europa, Amerika und Afrika kaum zu Steigerungen kam. In Asien beschäftigt Wirecard rund die Hälfte seiner über 5000 Mitarbeiter. Mit den Drittpartnern und Treuhändern vor Ort hatten vor allem die Mitarbeiter in der Niederlassung in Singapur zu tun.

Verhandlungen mit Banken

Nach den grundsätzlichen Zweifeln am Asiengeschäft geht es jetzt um die Frage: Wie werthaltig ist der Rest von Wirecard? Trotz der beunruhigenden Neuigkeiten aus Aschheim verhandeln die Gläubiger weiter über die Verlängerung einer Kreditlinie über insgesamt 1,75 Milliarden Euro.

Eigentlich könnte das Konsortium das Darlehen sofort fällig stellen, weil Wirecard nach wie vor keine testierte Bilanz für das vergangene Jahr vorweisen kann.

Aber für die rund 15 Geldhäuser unter Führung von Commerzbank, Landesbank Baden-Württemberg und den niederländischen Großbanken ING sowie ABN Amro gehe es jetzt erst einmal darum, ein paar Tage Zeit zu gewinnen, um sich einen möglichst detaillierten Überblick darüber zu verschaffen, wie viel Kapital und Liquidität bei Wirecard tatsächlich noch vorhanden ist, heißt es in Finanzkreisen. Dafür wollen die Geldhäuser auch auf externe Berater zurückgreifen.

Ziel sei nach wie vor, bis Ende der Woche eine vorläufige Einigung über eine Verlängerung der Kreditlinien zu erreichen, heißt es. Sollte es zu einer solchen Verlängerung kommen, werde sie wahrscheinlich aber nur kurzfristig sein und müsste regelmäßig erneuert werden, weil die Lage bei Wirecard extrem dynamisch sei.

Die Bank of China erwägt der Nachrichtenagentur Bloomberg zufolge bereits die Beendigung ihrer Kreditlinie. Um die „Fortsetzung des Geschäftsbetriebs“ zu gewährleisten, prüft Wirecard jetzt tiefe Einschnitte, „einschließlich Kostensenkungen sowie Umstrukturierungen, Veräußerung oder Einstellungen von Unternehmensteilen und Produktsegmenten“.

Die Mitarbeiter vor der Zentrale in Aschheim hofften am Montag noch auf eine positive Wendung. „Es müsste in der Finanzwelt doch noch jemanden gegeben, der unser Unternehmen angesichts des niedrigen Kurses übernimmt“, meint ein Angestellter.

Mehr: Die verzweifelte Suche nach den Wirecard-Milliarden – Aktionärsvertreter prüfen Klagen

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