Insurtechs werden Vollanbieter Die nächste Angriffswelle der jungen Digitalen
Frankfurt Norbert Rollinger macht sich keine Illusionen. „Natürlich wird der Wettbewerb mit dem Aufkommen neuer Insurtechs, die das ganze Geschäftsfeld angreifen, härter“, sagt der Chef der genossenschaftlichen R+V Versicherung dem Handelsblatt. Mit einem neuen Programm bemüht sich der 53-jährige Topmanager, den Versicherungsriesen aus Wiesbaden, der zum Finanzverbund der Volks- und Raiffeisenbanken zählt, stärker auf die Themen Digitalisierung und Kundenzufriedenheit auszurichten. Rollinger weiß, was die Stunde geschlagen hat. Denn eine zweite Generation von jungen Start-ups, die in der Versicherungsbranche Insurtechs genannt werden, beginnt, den traditionellen Großunternehmen das Feld streitig zu machen.
Bisher haben junge Start-ups in der Versicherungsbranche vor allem Teilbereiche des Marktes ins Visier genommen. Doch nun bringen sich neue digitale Vollanbieter in Stellung, die den alten Traditionsfirmen nicht mehr nur die Schnittstelle zum Kunden streitig machen wollen – sondern gleich das ganze Geschäftsmodell attackieren. Ihre Namen klingen mit Ottonova, Nexible, Friday und Element ungewohnt und bisweilen kurios. Doch auch der Internetgigant Amazon schielt inzwischen auf den lange als verstaubt geltenden Markt.
Gemeinsam ist den Firmen dabei vor allem ein Ziel: Sie wollen nicht mehr allein ein kleines Stück vom Kuchen – sondern gleich die ganze Torte. „Die Geschwindigkeit des technischen Fortschritts ist für unsere Branche eine große Herausforderung“, sagt Mark Klein, Digitalchef des Düsseldorfer Versicherers Ergo dem Handelsblatt.
Es ist ein Frontalangriff, der die Gewichte in der Branche neu verschieben könnte. „Die Gründungen sind für uns ein klares Zeichen, dass die zweite Insurtech-Welle begonnen hat, sich aufzubauen“, analysiert Dietmar Kottmann, Versicherungsexperte und Partner der Beratungsfirma Oliver Wyman. Ob damit eine neue Stufe erreicht werde, sei indes noch offen und hänge auch davon ab, inwieweit die digitalen Angreifer neue Geschäftsmodelle verfolgten oder nur bekannte Modelle digital neu aufbauten. Es sei zu bedenken, dass in Deutschland Versicherungen oft mehrjährig seien oder sich automatisch verlängerten, wenn sie nicht gekündigt würden. „In solch einer Situation dauert es oft eine ganze Weile, sich in den Markt reinzufressen – selbst wenn man beim Neugeschäft ein größeres Stück des Kuchens gewinnt“, glaubt der Experte.
Doch die Branche ist alarmiert. Im Sommer ging der neue, in München beheimatete private Krankenversicherer Ottonova an den Start, der der etablierten Konkurrenz Geschäft abspenstig machen will. Der Berliner Start-up-Konzern Finleap brachte die Versicherungsgesellschaft Element heraus, die im Oktober letzten Jahres eine Lizenz der Finanzaufsicht Bafin bekam und Versicherer und Insurtechs zusammenbringen will. In Düsseldorf geht seit Herbst der Ergo-Ableger Nexible als rein digitaler Versicherer vorerst unter Autofahrern im Kfz-Versicherungsmarkt auf Kundenfang, und mit Friday startete der Schweizer Rivale Baloise einen digitalen Kfz-Versicherer, der mit kilometergenauer Abrechnung für sich wirbt. In Großbritannien hat derweil der Internetriese Amazon begonnen, Versicherungsexperten einzustellen.
Die Geschäftsfelder, auf denen die neuen Rivalen angreifen, sind unterschiedlich. Gemeinsam ist ihnen allerdings das Grundkonzept: Alle Gesellschaften setzen auf digitale Geschäftsprozesse. Statt Sachbearbeitern lassen sie vor allem Algorithmen agieren, die Kosten bleiben entsprechend niedrig.
Etablierte Anbieter müssen sich vorsehen
Und wo traditionelle Versicherer ein großes Makler- und Beraternetz unterhalten, verkaufen sie ihre Policen über das Internet. So sucht Amazon in Großbritannien verstärkt nach Fachkräften für seinen Geschäftsbereich „Amazon Protect“. Damit lässt sich die Garantie für Elektrogeräte und andere Produkte, die über Amazon bestellt werden, auf bis zu fünf Jahre erhöhen. Viele der jungen Start-ups gehen sogar noch einen Schritt weiter. Sie treten als Vollversicherer auf, übernehmen selbst Risiken und benötigen entsprechende Lizenzen der Finanzaufsicht Bafin beziehungsweise anderer EU-Aufsichtsbehörden.
Für die Branche kommt das einer Zäsur gleich. Jahrelang konzentrierten sich die Angreifer in der Branche, die sich selbst Insurtechs nennen – der Begriff kommt vom englischen Insurance für Versicherung und Tech für Technologie –, auf die Rolle als Versicherungsvermittler. Junge Firmen wie Knip, Clark und Getsurance und viele andere wollten in erster Linie traditionelle Vermittler ersetzen und mit digitalen Ordnern und einfachem Online-Abschluss bei jungen Kunden punkten. Die zweite Welle an jungen Firmen will nun auch in das Versicherungsgeschäft selbst einsteigen, also die Bewertung von Risiken, die Preisfestsetzung und die Schadenbearbeitung. „Die zweite Welle der Insurtechs kommt langsam ins Rollen, die Insurtechs zeigen eine wachsende Reife“, analysiert Nikolai Dördrechter, der bis vor Kurzem den Lebensversicherungs-Policenaufkäufer Policen-Direkt führte.
Clark-Gründer Christopher Oster ist überzeugt, dass ein neuer Ausleseprozess bevorsteht. Die Insurtech-Szene in Deutschland habe mehrere Wellen durchgemacht. Die ersten seien die Preisvergleicher gewesen, die zweite seien die Versicherungsmanager, und die dritte Welle seien nun die Digitalversicherer, sagte er jüngst dem Fachmagazin „Versicherungswirtschaft heute“. Er ist zwar überzeugt, dass ein Großteil der Firmen wieder verschwinden wird. „In jeder Welle starten fünfzig Unternehmen, am Ende bleiben drei bis fünf Gewinner übrig – und jeder hofft dazuzugehören“, sagte Oster. Dennoch klingt seine Vorhersage alles andere als beruhigend für die etablierten Anbieter: „Ähnlich wird dies auch bei den Digitalversicherern laufen, viele werden es nicht schaffen, aber eine Handvoll wird für lange Zeit am Markt präsent sein.“
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