Klage gegen Krankenkassen Extrageld für ehemalige Erntehelfer

Haben Krankenkassen Zehntausende ausländische Saisonarbeiter auch nach Rückkehr in die Heimat als Versicherte geführt?
Berlin Es war der Vorstandschef der Techniker-Krankenkasse (TK), Jens Baas, der im vergangenen Jahr den Stein ins Rollen brachte. In einem Interview gestand er ein, dass auch die größte deutsche Krankenkasse Ärzten ein Extrahonorar für jeden Patienten gezahlt hat, dem diese auf dem Papier eine eindeutige Krankheitsdiagnose bescheinigten. Der Grund: Die Diagnosen sind seit 2009 bares Geld wert. Seither schüttet der Gesundheitsfonds für jeden Versicherten mit einer von 80 Krankheiten zusätzliche Finanzzuweisungen an die Krankenkassen aus.
Dies ist das Herzstück des damals eingeführten „krankheits-“ oder „morbiditätsorientierten“ Finanzausgleichs. Über ihn wurden zuletzt fast 20 Milliarden Euro Beitragseinnahmen zwischen den Kassen umverteilt. Inzwischen ist bekannt, dass auch andere große Kassen wie DAK und AOK Sonderhonorare in bundesweit 55 Verträgen für Ärzte vereinbart haben, wenn diese die „richtigen“ Zahlencodes für die Diagnose aufschreiben und so für Zusatzeinnahmen aus dem Gesundheitsfonds für die Kasse sorgen.
Kleinere Kassen, die sich solche Extrahonorare nicht leisten können oder denen es an Marktmacht fehlt, die Ärzte zum Codieren einträglicher Krankheiten zu bewegen, haben das Nachsehen. Da der Finanzausgleich ein Nullsummenspiel ist, erhalten sie am Ende geringere Zuweisungen vom Fonds.
Klage auf Schadensersatz
Nun hat als erste Krankenkasse die BKK mhplus, eine mit 560.000 Versicherten kleinere Kasse, Schadensersatzklage beim Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen eingereicht. Die Klage, die dem Handelsblatt vorliegt, hat es in sich. Denn darin werden nicht nur die bekannten Vorwürfe an verschiedene große Kassen wegen Schummeleien beim Hochcodieren von Krankheitsdiagnosen wiederholt. Einige Ortskrankenkassen sollen darüber hinaus Saisonarbeiter, die als Erntehelfer in Deutschland eingesetzt waren, auch nach Rückkehr in die Heimat als Versicherte geführt haben. Es gehe um 10.000 Scheinmitgliedschaften. Durch sie sollen die Kassen sich zusätzliche Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds in Höhe eines zwei- bis dreistelligen Millionenbetrags erschlichen haben.
Für planmäßiges Vorgehen spreche, dass die Kassen darauf verzichtet hätten, die auf diese Weise bei den Heimkehrern entstandenen Beitragsschulden einzutreiben und an den Gesundheitsfonds weiterzuleiten. Damit ist auch dem Gesundheitsfonds ein Vermögensschaden entstanden. Denn er musste gleichwohl für die Scheinmitglieder Zuweisungen überweisen.
Ähnliche Vorwürfe werden auch in einem Schreiben des Verbands der Ersatzkassen erhoben, das dem Handelsblatt vorliegt. Darin werden die AOK Nordwest und die AOK Rheinland-Hamburg namentlich erwähnt. Beim Bundesversicherungsamt (BVA) hieß es dazu auf Anfrage, dass es bislang keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass Krankenkassen ihrer Pflicht, die Mitgliedschaft bei Rückkehr in die heimische Sozialversicherung zu beenden, „grundsätzlich“ nicht nachgekommen seien. „Das BVA wird aber weiterhin in dieser Angelegenheit aktiv sein, damit eine eventuell unterschiedliche Verwaltungspraxis der Krankenkassen keine finanziellen oder wettbewerblichen Auswirkungen hat“, stellte ein Sprecher einschränkend fest.
Die Bundesregierung hat auf die Manipulationsvorwürfe bisher lediglich mit der Ankündigung reagiert, den wissenschaftlichen Beirat beim Bundesversicherungsamt mit einem Sondergutachten zu beauftragen. Zudem haben das Bundesversicherungsamt (BVA) und die Aufsichten der Länder klargestellt, dass Verträge zwischen Kassen und Ärzten, die Ärzten Zusatzhonorare für Diagnosen versprechen, „rechtlich unzulässig“ sind. Außerdem wollen sie bei ihrer Frühjahrstagung das Thema erneut beraten.
Forderungen der Länder, Manipulationen durch eine bundeseinheitliche Codierrichtlinie zu erschweren, wies die Bundesregierung aber zurück. Es gebe schon Codierregeln vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information. Entsprechende Schulungen der Ärzte seien Pflicht der ärztlichen Selbstverwaltung, hieß es zur Begründung. Dabei handelt es sich aber um die Kassenärztlichen Vereinigungen, die die Extrahonorare für lukrative Arztdiagnosen mit den Kassen ausgehandelt haben.
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