Geldpolitik Acht Jahre EZB-Chef: Das ist die Bilanz des Mario Draghi

Bei vielen gilt Draghi als Held, weil er die Euro-Zone zusammengehalten hat, als sie zu zerbrechen drohte.
Frankfurt Es ist nicht leicht, Mario Draghi zu verstehen. Selbst Kollegen, mit denen er lange zusammengearbeitet hat, sagen, dass sie ihn nicht wirklich kennen. Draghi hatte als Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) einen Hang, einsame Entscheidungen zu treffen. Während sein Vorgänger Jean-Claude Trichet lange Konferenzen abhielt und alle Beteiligten ausführlich zu Wort kommen ließ, sprach sich Draghi lieber im kleinen Kreis ab.
Draghi tritt an diesem Donnerstag zum letzten Mal als EZB-Präsident vor die Presse und wird am Montag offiziell verabschiedet, seine Nachfolgerin ist Christine Lagarde. Wer ist dieser Mann, der in Italien, in der Finanzverwaltung und der Notenbank, an wichtigen Schaltstellen saß, zeitweise bei Goldman Sachs arbeitete und in den vergangenen acht Jahren einer der Mächtigsten in Europa war? Der die europäische Geldpolitik auf nie gekanntes Terrain entführte und bei dem Versuch scheiterte, sie wieder zu normalisieren.
Schaut man auf seine gesamte Biografie, dann gibt er das Bild eines klassischen Verantwortungsethikers ab. Er ist einer, der vor allem auf die Folgen seiner Handlungen schaut und bereit ist, Entscheidungen durchzuboxen, wenn er sie für unbedingt nötig und richtig hält. Gesinnungsethik, das pure Pochen auf Grundsätzen ist ihm fremd. Dass er gerade in Deutschland oft auf Widerstand stößt, mag damit zusammenhängen, dass hier die Lehre der „Ordnungspolitik“ mit ihrer Betonung von Grundsätzen zu Hause ist.
„Ich habe kein Problem mit Führungspersonen wie Draghi, die ihre Position nutzen, um die Politik durchzusetzen, die sie für richtig halten“, sagt Erik Nielsen, Chefvolkswirt von Unicredit. Auch Dirk Schumacher, Volkswirt bei der französischen Bank Natixis, glaubt, dass Draghi „bei den wichtigen Entscheidungen richtig gelegen hat“. Er habe die Währungsunion stabilisiert. „Sein Vorauspreschen bei vielen Entscheidungen hat allerdings den EZB-Rat mittlerweile tief gespalten“, setzt er hinzu.
Einsame Entscheidungen
Vielleicht hat es mit dem frühen Verlust seiner Eltern zu tun, dass Draghi den Hang entwickelte, Entscheidungen allein zu treffen. Seit seinem 15. Lebensjahr war er oft auf sich gestellt, wie er 2014 im Interview mit der „Zeit“ erzählte. Er übernahm damals auch die Verantwortung für seine beiden jüngeren Geschwister.
Draghi ist bekannt für seine Höflichkeit. Nur selten lässt er sich Unmut anmerken, etwa als er auf dem Höhepunkt der Euro-Krise sagte, dass „Nein zu allem“ keine Lösung sei, wobei er diese Worte auf Deutsch aussprach. Damals, im September 2012, beschloss die EZB, im Notfall unbegrenzt Anleihen einzelner Euro-Länder zu kaufen.
Als Draghi gefragt wurde, ob die Entscheidung einstimmig gefallen sei, sagte er süffisant lächelnd, es habe eine Gegenstimme gegeben: „Ich überlasse es Ihnen, darüber zu spekulieren, wer das war.“ Jeder wusste, dass Bundesbank-Präsident Jens Weidmann gemeint war.
Draghi kann sehr bestimmt auftreten. Hin und wieder blitzt ein Hauch von Verachtung durch, wenn er den Eindruck hat, dass man ihn partout nicht verstehen will. Wenn es nötig ist, wiederholt er unablässig dieselben Forderungen, etwa nach Strukturreformen und aktiverer Finanzpolitik.
Laut EZB-Gewerkschaft IPSO sind die Mitarbeiter relativ zufrieden mit ihrem Chef. In einer Befragung, an der mit 791 Mitarbeitern knapp ein Viertel der Belegschaft teilnahm, bewerteten 54,5 Prozent seine Amtszeit als sehr gut oder hervorragend. 63,5 Prozent halten seine geldpolitischen Entscheidungen für richtig. 78 Prozent bescheinigen ihm, er habe das Ansehen der EZB gestärkt. 47 Prozent der Befragten sagten jedoch auch, dass er sich nicht ausreichend um Personalangelegenheiten kümmere.
Draghi fühlt sich vor allem in Italien wohl und ist von Frankfurt aus oft dorthin geflogen. Seine Familie – er ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder – hielt er meist von der Öffentlichkeit fern. Die Runde machte allerdings ein Video, das zeigt, wie italienische Journalisten seine Frau nach seinen möglichen politischen Ambitionen ausfragen wollten. Draghi, der bereits im Auto sitzt, ist mit dem Zuruf „Stai zitta“, zu hören, was man mit „Halt die Klappe“ übersetzen kann.
Draghi fühlt sich aber auch in der angelsächsischen Welt wohl. Da, wo Leute die Kapitalmärkte verstehen und ökonomische Zusammenhänge einordnen können. Wenn er in New York auftaucht, etwa bei dem traditionsreichen „Economic Club“, wirkt es, als komme er nach Hause.
Einmal setzte er dort zu einer Erläuterung seiner Geldpolitik an, unterbrach sich dann aber und sagte: „Hier muss ich das ja niemandem erklären.“ Ganz anders in Deutschland: Hier fühlt er sich als die unverstandenste öffentliche Person, wie er einmal sagte.
In Deutschland schlug ihm immer wieder beißende und oft geschmacklose Kritik entgegen. Er wurde mehrfach als Vampir karikiert, der die deutschen Sparer aussaugt. Noch bevor er überhaupt im Amt war, schrieb die „Bild“-Zeitung: „Ausgerechnet ein Italiener!“ Die Unterstellung, er arbeite für die Interessen seines Heimatlandes, verfolgt ihn. Die „Bild“ war es auch, die Draghi eine „original-preußische Pickelhaube von 1871“ schenkte, um ihn an angeblich preußische Sparsamkeit zu erinnern.
Zu Draghis Amtszeit gehören auch die Bilder der Pressekonferenz am 15. April 2015. Gerade will er über „Kreditkonditionen für Haushalte und Unternehmen“ sprechen, da springt eine Frau aus dem Publikum auf seinen Tisch.
Draghi hebt die Hände zur Abwehr. Die Aktivistin Josephine Witt schreit: „Beendet die Diktatur der EZB.“ Als Draghi begreift, dass er nur mit Konfetti attackiert wird, weicht die Panik aus seinem Blick. Was bleibt, ist die Verwunderung: Er soll ein Diktator sein?
In Deutschland werden Draghi vor allem die niedrigen Zinsen angelastet. So sagt Bankenpräsident Hans-Walter Peters: „Ich vermisse ein klares Zukunftsbild der EZB für die Währungsunion. Für die geldpolitische Steuerung gehört auf jeden Fall eine Perspektive dazu, wie sie aus dem geldpolitischen Krisenmodus herausfinden will. Negative Zinsen auf Dauer festzuschreiben bringt unser Finanzsystem in ganz schweres Fahrwasser.“
Während hier der EZB vorgeworfen wird, insolvente Staaten und Unternehmen am Leben zu halten, ist die Perspektive in Südeuropa eine ganz andere. Dort ist die EZB wegen ihrer Rolle in der Troika in die Kritik geraten.
Das Dreigespann aus EZB, IWF und EU-Kommission verhandelte mit finanziell angeschlagenen Euro-Ländern wie Griechenland über Hilfsprogramme. Diese waren mit massiven Ausgabenkürzungen verbunden. In der Notenbank räumen heute viele Vertreter ein, dass die Rolle der EZB in der Troika ein Fehler gewesen sei.
Bisweilen lagen Empörung und Bewunderung nahe beieinander. Im Herbst 2016 besuchte Draghi den Europa-Ausschuss des Bundestags. Dabei fragten selbst Bundestagsabgeordnete, die ihn sonst kritisieren, nach einem Autogramm oder einem gemeinsamen Selfie.
Vielen gilt Draghi als Held, weil er die Euro-Zone zusammengehalten hat, als sie zu zerbrechen drohte. Denn im Juli 2012, als die Kapitalmärkte in Panik gerieten, steht viel auf dem Spiel. In dieser Situation sagt Draghi die entscheidenden drei Worte, die längst in die Geschichte eingegangen sind: „Whatever it takes.“ Die EZB werde „tun, was immer es kostet“, um den Euro zu erhalten.
Damit schafft Draghi, was Europas Politiker in zwei Jahren voller Krisengipfel verfehlten: Er nimmt den Märkten die Angst vor einem Auseinanderbrechen des Euros.
Eingebettet in Geplauder über die Hummel als besonders widerstandsfähiges Insekt, leitete Draghi bei einer Investorenkonferenz in London über zur Währungsunion und ließ dann diesen berühmten Satz los. Er hatte sich vorher das stillschweigende Einverständnis der deutschen Regierung geholt, aber sich kaum mit seinen Kollegen in der EZB abgesprochen.
Mit „Whatever it takes“ zeigte Draghi sich als Magier. Seine Worte wirkten, bevor überhaupt die geldpolitischen Instrumente geschaffen wurden, mit denen er im Zweifel sein Versprechen hätte einlösen können. „Ohne Zweifel ist das sein wichtigstes Vermächtnis“, sagt Unicredit-Chefvolkswirt Nielsen.
Mit diesen Instrumenten bestimmt die EZB die Geldpolitik in Europa
Geldpolitisches Ziel verfehlt
Aber einige Kritiker, etwa der frühere EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark, haben früh gewarnt, dass Worten irgendwann Taten folgen müssten. Stark behielt recht. Im Laufe seiner Amtszeit entwickelte die EZB immer mehr Instrumente, um die Wirtschaft in Gang zu halten.
Noch vor einem Jahr sah es so aus, als würde sich die Inflation langsam in die Richtung von knapp zwei Prozent, dem offiziellen Ziel der EZB, bewegen. Doch dann zerschlug sich die Hoffnung, vor allem wegen geopolitischer Spannungen. Kurz vor seinem Abtritt drückte Draghi deswegen gegen zunehmenden internen Widerstand und externe Kritik noch einmal ein starkes geldpolitisches Paket durch.
Es ist, als wolle er nicht zugeben, in der gesamten Amtszeit nie das geldpolitische Ziel der EZB erreicht zu haben. Vielleicht wollte er auch seiner Nachfolgerin Christine Lagarde den Einstieg erleichtern. Aber damit hat er ihr auch eine zerstrittene EZB hinterlassen.
„Kurzfristig muss Lagarde versuchen, die Wunden im Rat zu heilen und einen breiteren Konsens bei anstehenden Fragen zu erreichen“, sagt Dirk Schumacher. Erik Nielsen sieht die größte Herausforderung für Lagarde darin, der deutschen Öffentlichkeit die Gründe für ihren geldpolitischen Kurs zu erklären.
Jörg Asmussen, ehemaliges EZB-Direktionsmitglied, fordert indes, dass die EZB unter der neuen Chefin Lagarde mehr auf Deutschland zugehen müsse. So könne eine weitere Abkühlung der Beziehung zum größten Mitglied des Euroraums verhindert werden. „Es gibt eine Entfremdung zwischen Deutschland und der EZB, und ich sehe das mit Sorge”, sagte Asmussen.
„Der Sieger geht leer aus“, heißt ein Buch von Hemingway. Das passt auch für Draghi. Er hat den Euro gerettet, aber konnte das Projekt, die Geldpolitik zu normalisieren und das Inflationsziel zu erreichen, nicht vollenden. Zum Abschied schlägt ihm außer Dank noch mehr Kritik entgegen.
Mehr: Christine Lagarde wird die Nachfolgerin von Draghi. Damit tritt sie in große Fußstapfen. Lesen Sie hier den Gastkommentar von Achim Wambach, Präsident des Wirtschaftsforschungsinstituts ZEW.
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Wenn man ihn in angelsächsischen Ländern versteht, dann soll er bitte dahin gehen! Ich bin sehr gespannt, ob Frau Lagarde etwas ändert?