Nobelpreisträger Joseph Stiglitz „Wunsch, eine Handgranate ins System zu werfen“

Europa hat viele Fehler gemacht.
Berlin Warum muss ausgerechnet ein Amerikaner Europa die Leviten lesen? „Diese Frage höre ich öfter“, sagt Joseph Stiglitz bei seinem Besuch in der American Academy in Berlin und räumt ein, dass die USA genug eigene Probleme haben. Aber seine Antwort überzeugt dennoch: „Was in Europa passiert, betrifft auch den Rest der Welt.“
Herr Stiglitz, der Internationale Währungsfonds (IWF) hat ausgerechnet, dass der globale Schuldenberg auf 152 Billionen Dollar gewachsen ist. Damit sind die Schulden doppelt so groß wie die Weltwirtschaft. Wirtschaften wir nur noch auf Pump?
Wir haben das Weltfinanzsystem nach der Krise 2008 nicht repariert und wieder in Ordnung gebracht. Immer noch müssen wir aufpassen, dass das Finanzsystem keine Schäden in der Wirtschaft anrichtet.
Was meinen Sie genau?
Ich rede über exzessive Risiken, Marktmanipulationen, betrügerische Kreditvergabe und Insider-Trading. Wir müssen das Finanzsystem so reformieren, dass es wieder seine ureigene Aufgabe erfüllt: nämlich kleine und mittelgroße Unternehmen zu finanzieren.
Die Höhe der Schulden beunruhigt Sie nicht?
Es ist weniger die Höhe der Schulden, die mir Sorgen macht, als vielmehr die Tatsache, dass die Finanzinstitute nicht ihren Job machen. Sie entwickeln immer noch Credit Default Swaps (CDS) und anderes Spielgeld, aber eben nicht genug Kredite für den Mittelstand. Wenn man sich zum Beispiel das Niveau der Kreditvergabe an kleine und mittlere Unternehmen in Europa anschaut, dann sieht man, dass heute deutlich weniger Kredite vergeben werden als vor der Krise 2008.
Ist das Finanzsystem heute stabiler als vor der Krise?
Einige Bereiche des Weltfinanzsystems sind heute weniger krisenanfällig.
An welche Länder denken Sie?
An die USA zum Beispiel. Amerika hat seine Banken nach der Krise viel besser rekapitalisiert als Europa. Wir haben gegen erhebliche Widerstände die Kapitalanforderungen für unsere Banken erhöht. Für meinen Geschmack reicht das immer noch nicht aus, aber wir sind ein gutes Stück vorangekommen.
Und Europa?
Die europäische Bankenaufsicht hat der Branche eine gute Gesundheit attestiert, drei Wochen später ging eine große Bank pleite.
Wie können wir die Geschäftsmodelle der Banken so verändern, dass sie wieder mehr Kredite an die Wirtschaft vergeben?
Zunächst einmal sollten sich Banken auf ihr klassisches Bankgeschäft konzentrieren.
Muss der Staat dabei nachhelfen?
Nein, aber er sollte den Banken verbieten, so viele andere Dinge zu tun. Die US-Banken machen zum Beispiel einen Gewinn von 30 bis 40 Milliarden Dollar pro Jahr alleine aus Kreditkartengebühren. Obwohl die tatsächlichen Kosten ihrer Dienstleistungen minimal sind. Das geht nur, weil sie sich wie Monopolisten verhalten können. Das Gleiche gilt für ihre Geschäfte mit CDS und anderen Derivativen.
Muss sich nicht auch die Kultur der Finanzbranche ändern?
Ja. Wir müssen die Corporate Governance der Banken reformieren. Hier gibt es in den USA mehr Nachholbedarf als in Europa. So konzentrieren sich die US-Banken immer noch zu sehr auf kurzfristige Quartalsgewinne. Das führt dann zu Problemen, wie wir sie jetzt bei Wells Fargo gesehen haben. Dort haben Banker Konten eingerichtet, ohne dass die Kunden davon wussten. Selbst der Chef von Goldman Sachs hat vor dem Kongress eingeräumt, dass jeder, der den Banken vertraut, ein Dummkopf ist. Diese Unternehmenskultur muss sich ändern.
Ihr neues Buch über die Euro-Krise gleicht einer Anklageschrift. Warum sind Sie so wütend auf die Europäer?
Die politischen Fehler, die in Europa gemacht wurden, haben Auswirkungen auf das Leben vieler Menschen. Es geht nicht nur um Statistiken, wenn wir über eine Jugendarbeitslosigkeit von 60 Prozent sprechen. Hier wird das Leben junger Menschen zerstört.
Sie haben die Auswirkungen der Krise aus der Nähe beobachtet.
Ja. Als ich das Buch geschrieben habe, war ich einige Zeit in Krisenländern wie Griechenland und Spanien und habe gespürt, was die Menschen erleiden mussten. Ich schäme mich nicht dafür, dass ich darauf mit Anteilnahme reagiere.
Mit Blick auf die vor allem von Deutschland eingeforderte Sparpolitik benutzen sie die Metapher vom mittelalterlichen Aderlass in den Krisenländern. Ist das mehr als eine verbale Provokation?
Ich habe das Bild gewusst gewählt, um den Unterschied zwischen Ideologie und Wissenschaft deutlich zu machen. Wir wissen, dass der Aderlass im Mittelalter keine wissenschaftliche Grundlage hatte. Man glaubte, dass die Krankheit mit dem Blut herausgespült würde. Als sich der Zustand nicht besserte, wurde der Aderlass noch verstärkt, und die meisten Patienten starben. Hin und wieder gab es jedoch ein Wunder, und ein Patient wurde geheilt.
Was hat das mit dem Euro zu tun?
Von der modernen Psychologie wissen wir, dass Menschen sich vornehmlich nur an die Dinge erinnern, die zu ihrem Weltbild passen. Die Fehlschläge werden verdrängt. So ähnlich ist das heute mit der Sparpolitik in der Euro-Zone.
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