Dax-Konzerne Chefetagen weiter in deutscher Hand

Dax-Konzerne werden immer internationaler – mit überwiegend deutschem Spitzenpersonal.
Düsseldorf Kaum jemand wird behaupten, dass der Münchener Halbleiterkonzern Infineon schlecht geführt ist, weil ausnahmslos Deutsche im Vorstand das Sagen haben. Im Gegenteil: Nach der Beinahe-Insolvenz im Jahr 2009 führte Peter Bauer die ehemalige Siemens-Ausgliederung erfolgreich aus der existenziellen Krise. Der Aktienkurs hat sich seit dem Tief im Frühjahr 2009 mehr als verfünfzigfacht. Das macht Bauer und seinem Nachfolger Reinhard Ploss so leicht niemand nach.
Doch wie sieht es mit Volkswagen aus? Den Wolfsburgern hätte etwas weniger Deutsch in der operativen Führung vielleicht gutgetan. Unter den neun Vorstandsmitgliedern des Autobauers hat einzig Francisco Javier Garcia Sanz keinen deutschen Pass. Der Spanier ist für die Beschaffung verantwortlich. Bekannter ist Sanz durch seinen öffentlichkeitswirksamen Aufsichtsratsvorsitz beim Fußball-Bundesligisten und Werksklub VfL Wolfsburg.
Womöglich hätte der eine oder andere Amerikaner in der operativen VW-Führung frühzeitig auf die Gefahren der Abgasmanipulationen hingewiesen oder sie gar von vornherein verhindert – allein schon deshalb, weil amerikanische Topmanager mit den Umweltvorschriften und dem Rechtssystem in den USA bestens vertraut sind.
Das sind lediglich Spekulationen. Fakt aber ist: Deutschlands Großkonzerne sind hochglobalisiert, wenn es um Absatz, Handel, Forschung, Umsatz und Gewinn geht. Denn Adidas, BMW, Daimler, Siemens & Co. folgten frühzeitig den aufstrebenden Märkten und Kunden von morgen. Auf diese Weise erhöhten sie ihre Gewinne stärker als die Umsätze, was die Profitabilität nachhaltig verbesserte. Vor allem ausländische Anleger kaufen gerne und seit vielen Jahren verstärkt Anteilscheine an diesen erfolgreichen Unternehmen, auch weil das Gros der Deutschen die Aktie konsequent meidet. Ausländische Investoren besitzen nach Handelsblatt-Berechnungen inzwischen 53 Prozent aller Dax-Aktien – und damit die Mehrheit an Deutschlands 30 größten börsennotierten Konzernen. Bei Adidas, Bayer, Infineon und der Deutschen Börse sind sogar mehr als 70 Prozent der ausgegebenen Aktien in ausländischer Hand.
Deutschlands 30 größte börsennotierte Konzerne erwirtschaften im Schnitt drei Viertel ihrer Umsätze außerhalb Deutschlands. Anfang des Jahrtausends war es noch die Hälfte. Auch beschäftigen sie 60 Prozent ihrer insgesamt knapp vier Millionen Mitarbeiter in der Fremde. Mitte der 90er-Jahre kamen 60 Prozent der Angestellten aus Deutschland.
„Von größerer Vielfalt profitieren“
Die Konzerne werden also immer internationaler – nur das Spitzenpersonal läuft diesem Trend hinterher. Die Vorstandsmitglieder sind nach einer Analyse des Wirtschaftsprüfers EY, die dem Handelsblatt exklusiv vorliegt, mit großer Mehrheit Deutsche: Von den 199 Vorständen haben zwei Drittel, 134, einen deutschen Pass.
Ähnlich sieht es in den von Aktionären und der Belegschaft gewählten Aufsichtsräten aus: Von den insgesamt 261 seitens der Kapitalseite ernannten Aufsichtsratsmitglieder haben 180 – das sind 69 Prozent – einen deutschen Pass, nur weniger als ein Drittel sind Ausländer. Bei den von den Arbeitnehmern entsandten Kontrolleuren liegt der Ausländeranteil mit acht Prozent noch deutlich niedriger. Insgesamt stammt nur jeder fünfte Aufsichtsrat eines Dax-Unternehmens aus dem Ausland.
Daran dürfte sich kaum etwas ändern: Mit Blick auf die Aktiengesellschaften (AG) hatte der Europäische Gerichtshof erst in diesem Sommer den Ausschluss ausländischer Arbeitnehmer von den Wahlen zum Aufsichtsrat trotz immer stärkerer Internationalisierung gebilligt.
„Natürlich ist ein hoher Ausländeranteil im Aufsichtsratsgremium kein Gradmesser für die Qualität der Arbeit“, urteilt Mathieu Meyer, Mitglied der EY-Geschäftsführung. „Allerdings könnte die Arbeit der Aufsichtsräte durchaus von einer größeren Vielfalt profitieren.“ So bereichern unterschiedliche Wertmaßstäbe und Kulturen mit verschiedenen Herangehensweisen und Managementmethoden die Arbeit der Aufsichtsräte und Vorstände – und verleihen ihnen neue Impulse. Darauf verzichten aber die meisten Dax-Konzerne mit einer Überpräsenz deutscher Vorstände und Aufsichtsräte.
Und das hat Folgen. So dürften beispielsweise Diskussionen über Investitionsentscheidungen und Zukäufe in einem stark international besetzten Gremium anders ablaufen als in einem nur mit Deutschen besetzten Kontrollgremium.
Beispiel Thyssen-Krupp: Der Industriekonzern entschied sich ausgerechnet auf dem Höhepunkt des Wirtschaftsbooms 2006 und 2007 dazu, Stahlwerke in Brasilien und den USA zu bauen, um dort billiger als in Deutschland zu produzieren. Tatsächlich kostete die Bramme Stahl hierzulande weniger. Auch überstiegen die Baukosten von rund 13 Milliarden Euro die Planungen um ein Vielfaches.
Wäre es zu dieser milliardenschweren Fehleinschätzung auch mit Amerikanern an der Spitze im Vorstand oder Aufsichtsrat gekommen? Auch das bleibt Spekulation, doch mit mehr Landeskunde wäre dem Essener Traditionskonzern das Desaster wohl erspart geblieben.
„Je stärker sich die Unternehmen internationalisieren, desto wichtiger werden neue Denkanstöße und ein Gespür für die Vielfalt von Kulturen und Regionen“, erklärt Meyer. „Neue Technologien verändern Geschäftsmodelle und Strategien in bislang nie da gewesener Geschwindigkeit – da kann es nicht schaden, stärker über den Tellerrand zu blicken, sich auf neue Sichtweisen einzulassen.“
So stammt nur jeder 16. Aufsichtsrat (sechs Prozent) bei den 30 Dax-Konzernen aus Nordamerika – doch jede fünfte Aktie liegt in amerikanischer Hand. Und sogar jeden vierten Euro erwirtschaften die Unternehmen in Amerika. Ähnlich sieht es mit Asien aus: Hier erzielen die Konzerne gut 17 Prozent ihrer Umsätze, doch unter den 261 Aufsichtsräten findet sich mit der Chinesin Amy Yip bei der Deutschen Börse nur eine Topkraft aus Gesamt-Asien. Bei den Vorstandsmitgliedern sind es immerhin drei Inder, ein Chinese und ein Japaner.
Neben Infineon und Thyssen-Krupp haben auch die beiden Energieversorger Eon und RWE sowie die Commerzbank und der Wohnungsanbieter Vonovia keinen Vorstand mit ausländischem Pass. Beim Immobilienkonzern erscheint das noch am verständlichsten – er ist der einzige Dax-Konzern ohne Umsatz und Mitarbeiter im Ausland.
Doch es geht auch internationaler. Am stärksten globalisiert beim Spitzenpersonal sind Adidas, Fresenius und die Tochter Fresenius Medical Care (FMC), Deutsche Bank, Linde und Beiersdorf, bei denen jeweils mehr als die Hälfte der Vorstandsmitglieder einen ausländischen Pass hat. Bei den Kontrollgremien werden FMC, Deutsche Bank und auch der Wolfsburger Autobauer Volkswagen mehrheitlich ausländisch geführt.
Der große Globalisierungstrend, wie er sich bei den Umsätzen, Mitarbeitern und Aktionären eindrucksvoll zeigt, geht am Spitzenpersonal der Dax-Konzerne aber keineswegs vorbei. Er vollzieht sich nur zeitverzögert. Bis Ende der 80er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts erwirtschafteten die deutschen Konzerne den Großteil ihrer Geschäfte im Inland und beschäftigten dort zwei Drittel ihrer Mitarbeiter. Auch waren die Anteilscheine fest in deutscher Hand – nicht bei Einzelaktionären oder großen Investmentfonds, sondern bei den Unternehmen mit Hilfe gegenseitiger Verflechtungen.
Run ausländischer Investoren
Frühzeitig erkannten Daimler, Siemens & Co., nämlich schon Anfang der 90er-Jahre, die Chancen auf internationalen Märkten wie Amerika und Asien, wo viele Länder sehr viel schneller wuchsen als in Europa. China ist für viele Unternehmen, ganz besonders für den Autobauer Volkswagen, inzwischen der wichtigste Absatzmarkt. Gleichzeitig stagnierte das Wachstum im gesättigten Heimatmarkt. Die Folge: Jahr für Jahr setzten die großen Dax-Konzerne, genauso aber auch die vielen hochspezialisierten Industriefirmen der zweiten Reihe, wie der Autozulieferer Dürr, der Schmierstoffspezialist Fuchs Petrolub oder der Großküchenhersteller Rational, immer mehr Produkte im Ausland ab.
Bereits Anfang des Jahrtausends beschäftigten die 30 Dax-Konzerne mehr Mitarbeiter in der Fremde und erwirtschafteten dort mehr als die Hälfte ihrer Erträge. Dieser Trend verstärkt sich Jahr für Jahr und erscheint unumkehrbar.
Dass es anschließend zu einem beispiellosen Run ausländischer Investoren auf die deutsche Großindustrie kam, verantwortete die rot-grüne Bundesregierung. Sie befreite im Mai 2000 Beteiligungsverkäufe von der Steuer – das Signal für die Auflösung der Deutschland AG. Seitdem ist Deutschlands börsennotierte Großindustrie mehrheitlich in ausländischer Hand.
Zeitverzögert folgt nun die Globalisierung beim Spitzenpersonal. Anfang des Jahrtausends waren knapp über zehn Prozent der Vorstände ausländischer Herkunft, 2005 nach Berechnungen der Unternehmensberatung Simon Kucher & Partners bereits 20 Prozent. Seitdem steigt der Anteil sehr langsam, aber kontinuierlich an. Ähnlich sieht es in den Kontrollgremien aus: Anfang des Jahrtausends hatte nicht einmal jedes sechste Aufsichtsratsmitglied einen ausländischen Pass – inzwischen jedes fünfte.
„Die Internationalisierung der obersten Führungsebenen“, so urteilt der Hamburger Finanzwissenschaftler Alexander Bassen, „ist ein logischer Schritt der Globalisierung. Hiervon können auch die Aufsichtsräte nicht ausgenommen sein.“
Fakt ist: Wo ausländische und Investmentfonds sowie aktivistische Investoren großen Einfluss haben, wie etwa beim Sportartikelhersteller Adidas, dem Pharmahersteller Bayer, dem Industriegasespezialisten Linde und dem Versicherer Allianz, da sitzen schon heute mehr ausländische Anteilsvertreter im Aufsichtsrat oder im Vorstand als bei den meisten anderen Konzernen. „Dies dürfte auch in den kommenden Jahren Trend bleiben“, prognostiziert der Kapitalmarktrechtler Theodor Baums.
Die Folge wäre, dass angesichts der großen Beliebtheit deutscher Aktien bei ausländischen Investoren künftig der Anteil ausländischer Vorstände und Aufsichtsratsmitglieder weiter steigen wird.
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