Märkte nach dem Brexit-Votum Keine Entwarnung

Die britische Währung hat seit dem Brexit-Votum rund 15 Prozent an Wert gegenüber dem US-Dollar eingebüßt.
Es ist ein Déjà-vu, das zum Wochenanfang die Anleger weltweit erschreckt hat. Große Immobilienfonds in Großbritannien lassen keine Anteilsverkäufe ihrer Anleger mehr zu. Eine Massenflucht hatte Anbieter wie Standard Life und M&G Investments dazu gezwungen, um andere Investoren vor hohen Verlusten zu schützen. „Dass einige Immobilienfonds die Rückgabe von Anteilen temporär ausgesetzt haben, hat sicherlich Erinnerungen an die Finanzkrise 2007/2008 geweckt“, sagt Holger Achnitz, Leiter des Devisenhandels der Citigroup in Deutschland.
Und auch wenn die deutschen Fondsanbieter keine Parallelen sehen, hat vor allem das britische Pfund schwer unter dem Misstrauen in den britischen Immobilienmarkt gelitten. Im Schlepptau rauschten am Mittwoch Aktienkurse nach unten – und Gold und Staatspapier-Kurse in die Höhe.
Dabei schien der Brexit-Schock eigentlich schon verdaut. Die Investoren waren nach einem „Schwarzen Freitag“ am 24. Juni schnell wieder zur Tagesordnung übergegangen, die Kurse stabilisierten sich, nachdem der erste Absturz als Überreaktion gewertet worden war. Doch die politische Krise in Großbritannien hält an, und auch andere Sorgen beschäftigen die Investoren. Die Furcht vor einer weltweiten Abkühlung der Weltwirtschaft geht um. Und eine drohende Bankenkrise in Italien könnte den Kontinent – ganz ohne die Probleme auf der Insel – in eine schwierige Lage bringen.
Fluchtpunkt Nummer eins sind Staatspapiere. Die starke Nachfrage lässt die Kurse steigen. Im Umkehrschluss rauschen die Renditen weiter in den Keller. Die Käufe erscheinen auf den ersten Blick kurios: Zehnjährige Bundesanleihen rentierten am Mittwoch zeitweise bei minus 0,2 Prozent. Wer einsteigt, muss also eigentlich Zinsen zahlen.
Die Käufer nehmen das in Kauf, weil sie nicht nur zu schätzen wissen, dass beim deutschen Staat angelegtes Geld zumindest gegen Totalausfälle gesichert sein dürfte. Sie spekulieren auch darauf, dass die Anleihen weiter ein Kaufmagnet sind. Wer schon die Papiere hat, wenn andere einsteigen, kann sie mit Kursgewinnen verkaufen. Ein Problem kann mittelfristig daraus erwachsen: Wenn der Markt sich dreht, bleiben Investoren auf Papieren sitzen, die sei bei Minusrenditen ins Depot genommen haben.
Ein Ende des Abwärtsstrudels ist bei den Staatsanleihen kurzfristig nicht in Sicht: Experten gehen davon aus, dass die Rendite sogar auf minus 0,5 Prozent fallen könnte. Vor dem Brexit-Referendum lag die Rendite immerhin noch bei plus 0,05 Prozent. In Großbritannien stürzen sich Investoren auch auf Anleihen – und das, obwohl die Ratingagenturen die Kreditwürdigkeit Großbritanniens inzwischen als geringer einschätzen.
Die Rendite zehnjähriger britischer Staatsanleihen liegt mit 0,73 Prozent auf einem historischen Tief und ist seit dem Referendum um mehr als 0,6 Prozentpunkte abgesackt. Auch in den USA ist das Bild ähnlich: Hier fiel die Rendite zehnjähriger US-Treasuries seit dem Nein der Briten zur EU um knapp 0,4 Prozentpunkte auf das Rekordtief von 1,34 Prozent.
Die Renditen sacken auch ab, weil Zinserhöhungen der Zentralbanken in weite Ferne rücken. In Großbritannien hat Zentralbankchef Mark Carney eine Zinssenkung angedeutet, die schwedische Notenbank hat am Mittwoch ein Anheben der Zinsen auf die zweite Jahreshälfte 2017 vertagt. „Die Behörden werden alles versuchen, um die Liquidität an den Märkten zu garantieren“, meint Steven Bell, Chefvolkswirt des Investmenthauses BMO Global Asset Management.
In den USA haben die Anleger eine Leitzinserhöhung in diesem Jahr weitgehend abgehakt. Vor dem Referendum hatte noch die Hälfte der Investoren zumindest einen Zinsschritt bis Dezember erwartet. Und bei der Europäischen Zentralbank (EZB) scheint eine weitere Ausweitung des Anleihekaufprogramms möglich. Nikolaus von Bomhard, Chef des weltgrößten Rückversicherers Munich Re, geht nach dem Brexit-Votum davon aus, dass die Welt auf absehbare Zeit im Zinstief gehalten wird. „Bisher dachte ich an ein bis zwei Jahre, aber das geht wohl über diesen Zeitraum hinaus“, sagt er.
Das britische Pfund war in der Nacht gegenüber der US-Währung zeitweise auf 1,2798 Dollar gefallen. So günstig war es seit 1985 nicht mehr. „Der tiefe Fall des Pfunds kommt etwas zeitverzögert, aber im Prinzip ist er die Reaktion auf all die Signale, dass Großbritannien sich einer Rezession nähert“, sagt Adam Cole, Währungsexperte der Royal Bank of Canada. Citigroup-Händler Achnitz rechnet damit, dass die Währung noch bis auf 1,20 Dollar abrutschen könnte.
Vor dem EU-Referendum hatte die Währung bei 1,50 Dollar notiert. Vor solch gewaltigen Schwankungen gibt es einen traditionellen Schutz, der vor allem dann funktioniert, wenn sich möglichst viele Anleger fürchten und den Preis dadurch treiben: Gold. Der Preis für das Edelmetall ist auf ein Zweieinhalb-Jahres-Hoch von 1 371,40 Dollar je Feinunze geklettert. Schon seit Jahresbeginn war der Preis über ein Fünftel gestiegen und hat nun nach dem Brexit-Referendum weiter zugelegt. „Gold hat seine Rolle als Krisenschutz bestätigt. Und die Unsicherheit wird wahrscheinlich anhalten“, sagt Giovanni Staunovo, Goldexperte bei der UBS in Zürich.
Die Aktienmärkte befinden sich indes auf einer rasanten Berg-und-Talfahrt. Waren viele Papiere nach dem Brexit-Votum ins Taumeln geraten, haben sie sich in den Tagen danach erstaunlich schnell erholt. Doch Analysten mahnen zur Vorsicht. „Die Gefahr eines Ausverkaufs ist nicht gebannt“, befürchtet Helaba-Experte Markus Reinwand vor einigen Tagen.
Banken im Krisenmodus
Die jüngsten Schockwellen seien ausgelöst worden, als sich konkreter abgezeichnet habe, dass die Folgen des Referendums weit mehr als nur die Handelsbeziehungen zwischen Großbritannien und der EU beeinträchtigen, meint Martin Lück, Chef-Anlagestratege Deutschland beim weltgrößten Vermögensverwalter Blackrock. So werde immer klarer, dass im vernetzten Bankensystem europäische Häuser belastet würden. „Das lenkt die Diskussion dann sofort auf das schwächste Glied, die italienischen Banken“, sagt Lück.
Vor allem das Geldhaus Monte dei Paschi befindet sich im Krisenmodus wegen fauler Kredite in den Büchern. Seit Tagen wird über ein Rettungspaket für die Bank diskutiert, was das Vertrauen in die gesamte Branche in Europa erschüttert. So sackten die Aktien von Commerzbank und Deutscher Bank auch deshalb auf neue Rekordtiefstände. Die Halbierung des Aktienkurses seit Jahresbeginn könnte für die Deutsche Bank laut Analysen von LBBW und Société Générale Ende Juli den Rauswurf aus dem europäischen Index Stoxx 50 bedeuten.
In Deutschland müssen Aktienbesitzer mit weiteren Rücksetzern rechnen. Wegen der Unruhe am Markt durch die EU-Politik drohe dem Leitindex Dax ein schwankungsintensives Jahr, meint Christian Kahler, Chefstratege Aktien der DZ Bank. Johannes Müller, Chef-Anlagestratege Deutschland bei Deutscher Asset Management, ergänzt: „Die Rücksetzer sind noch nicht ausgestanden, die Tiefstände des Jahres bei Aktien können wir wieder erreichen.“ Für den Dax hieße das einen weiteren Verlust von rund sieben Prozent bis auf 8 699 Punkte.