Insolvenzverfahren „Wie zu Zeiten von 1877“

Bei Großpleiten kommen Hunderttausend Seiten pro Jahr zusammen.
Berlin Er sei kein „Technik-Freak“, betont Christoph Niering. Der Partner einer der großen deutschen Insolvenzverwalterkanzleien kommt allerdings ins Grübeln, wenn er durchrechnet, wie viel Papier er bei den rund 1000 Verbraucher- und 100 Unternehmensinsolvenzen, die sein Büro jährlich betreut, in die Welt hinausschickt. So erhalten zu Beginn einer Pleite alle Gläubiger auf dem Postweg einen dicken Packen Formulare samt Merkblatt, damit sie ihre Forderungen anmelden können. Bei Niering kommen da einige Hunderttausend Seiten pro Jahr zusammen. Bei einer einzigen Großpleite wie etwa beim Billigstromanbieter Teldafax mit einer halben Million Gläubiger wurden allein rund fünf Millionen Seiten verschickt. Die in Papierform eingereichten Anträge müssen dann in der Kanzlei wiederum digital erfasst werden.
„Wir arbeiten bei den Insolvenzverfahren noch wie zu Zeiten der Konkursordnung von 1877“, beklagt Niering. Sprich: Alles muss in Papier gebracht und zugestellt werden. Die Gläubigerversammlungen erfordern noch immer physische Präsenz. Die Berichte gehen postalisch an die Gerichte. Der Schlussrechnungsprüfer hantiert mit den Papierbelegen. „Diese Dinge sind mit der aktuellen Insolvenzordnung nicht anders geworden“, sagt Niering. Doch das will er als Vorsitzender des Verbandes der Insolvenzverwalter (VID) nun ändern. Unter dem Schlagwort „Insolvenzverfahren 4.0.“ soll das Milliardengeschäft mit der Pleite nun digitalisiert werden – so weit es möglich ist.
„Unsere Kanzlei arbeitet intern bereits seit Jahren papierlos“, berichtet Niering. Das sei allerdings in der Branche mit rund 800 professionellen Insolvenzverwaltern nicht die Regel. Hier müssten die Büros tätig werden. „Aber die Kommunikation mit den Gläubigern und den Gerichten könnte digital viel einfacher laufen“, meint der Insolvenzverwalter. Er erhofft sich kürzere Verfahrenslaufzeiten und bessere Quoten für die Gläubiger. Als Hemmschuh fürchtet er allenfalls den Datenschutz.
Niering hat unter anderem bereits Kontakt mit den Krankenkassen als große Gläubigergruppe aufgenommen. Dort rannte er offene Türen ein: Auch die Versicherer wollen ihr Insolvenzgeschäft entrümpeln.
Werden bei Zahlungsunfähigkeit keine Sozialversicherungsbeiträge mehr abgeführt – von Unternehmen oder Privatpersonen – sind die Versicherungen befugt, Insolvenz für die Schuldner zu beantragen. Bei jährlich etwa 23.000 Unternehmensinsolvenzen und 80.000 Verbraucherinsolvenzen kämpfen die Kassen mit Hundertausenden Einzelvorgängen. Viele von ihnen dauern mehrere Jahre an. „Bislang mussten wir alle laufenden Insolvenzfälle mit manueller Wiedervorlage überwachen“, erzählt Stefan Lodyga, der bei der Pronova BKK die Insolvenzabteilung leitet.
„Im Zeitalter des Smartphones ist es kurios, dass wir ausgedruckte Formulare zugesandt bekommen, diese ausfüllen und zurücksenden und bei uns die Daten speichern, um sie dann von Mitarbeitern immer wieder einzeln prüfen zu lassen.“
Lodyga startete ein Pilotprojekt, um das Insolvenzgeschäft zu digitalisieren. Und er holte andere Versicherer mit ins Boot: Ab 2017 werden 100 Krankenkassen mit 26 Millionen Versicherten Insolvenzen vollautomatisch managen. Termine, Beschlüsse und Verfahrensänderung laufen dann digital in das System ein. Briefe, Beschlüsse und Gutachten liegen in der digitalen Akte. „Sobald ein Verfahren vom normalen Verlauf abweicht oder ein bestimmter Anlass eintritt, werden Prozesse automatisch in Gang gesetzt“, sagt Lodyga. Das gehe schneller, reduziere die Kosten und begrenze die Fehleranfälligkeit.
Antragsstellung soll vereinfacht werden
Auch die Bundesagentur für Arbeit (BA) hat die Insolvenzen bereits in den Blick genommen. Im „Laufe des kommenden Jahres“ soll es möglich werden, den Antrag auf Insolvenzgeld online stellen zu können, heißt es in Nürnberg auf Anfrage. Das betrifft jährlich rund 130.000 Arbeitnehmer.
Das digitale Formular orientiert sich demnach am Papiervordruck, bietet aber zusätzlich Tooltipps oder Plausibilitätsprüfungen. Es soll auch möglich sein, weitere Nachweise als Anlage hochzuladen. Die BA hofft auf mehr „verwertbare Qualität“ der Anträge. „Wir gehen davon aus, dass die Antragsbearbeitung dadurch schneller wird“, heißt es in Nürnberg.
VID-Chef Niering sieht noch mehr Potenzial als nur die Forderungsanmeldung zu digitalisieren. Beschlüsse, Zwischen- und Abschlussberichte könnten online mit Zugangscode angeboten werden, die Gläubigerversammlung per Videokonferenz zusammentreten, Zahlungsvorgänge online einsehbar sein. „Auch eine Reduzierung der Anzahl von Insolvenzgerichten scheint möglich, wenn der Insolvenzantrag elektronisch eingestellt werden kann“, meint Niering. Derzeit gibt es rund 180 Insolvenzgerichte bundesweit. „Doch die elektronische Akte bei den Insolvenzgerichten ist noch Zukunftsmusik“, bedauert der Verbandschef.

Kampf gegen die Papierakte.
Tatsächlich gab es bereits vor knapp zehn Jahren den Anlauf für eine „elektronische Verfahrensführung“ im Insolvenzrecht. 2007 brachte der Bundesrat den „Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung und Vereinfachung der Aufsicht in Insolvenzverfahren“ (GAVI) in den Bundestag ein. Hintergrund waren Veruntreuungsfälle. Per Rechtsverordnung sollten die Gläubiger die Möglichkeit erhalten, sich jederzeit bei Gericht in „ihr Verfahren“ einloggen und die dort zur Verfügung gestellten Unterlagen ansehen zu können. Auch sollte das Gericht die vom Verwalter gelieferten Informationen über den Verfahrensstand einstellen, etwa zur voraussichtlichen Verfahrensdauer oder zu der zu erwartenden Quote. Zugleich sollte die Rechnungslegung des Verwalters elektronisch einsehbar werden. Doch zu dieser Modernisierung kam es nie – „erledigt durch Ablauf der Wahlperiode“, wie es im Bürokratendeutsch heißt.
2013 kam zwar das „Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten“. Hier bleibt die elektronische Aktenführung jedoch eine Option, die in der Realität tatsächlich kaum genutzt wird. Auf Anfrage teilte das Bundesjustizministerium mit, es prüfe derzeit, ob „Regelungen über die verbindliche elektronische Aktenführung in allen gerichtlichen Verfahrensordnungen“ eingeführt werden können. Dies wäre dann aber erst ab 2026 der Fall.
„Es ist unverständlich, warum nicht schon jetzt die Kommunikation zwischen dem Gericht und den Verfahrensbeteiligten verbessert wird“, meint Pronova-Insolvenzexperte Lodyga. „Das Justizministerium und die Insolvenzverwalter müssen dringend tätig werden.“
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