Verbraucherschutz Fehlerhafte Belehrungen bei Kreditverträgen könnten zu millionenfachen Widerrufen führen

Außenansicht des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg.
Berlin Rechtsanwalt Christof Lehnen muss nach Worten ringen, wenn er das Urteil des EuGH einordnen soll. „Das hat wie eine Bombe eingeschlagen, auch wenn Experten genau mit dieser Entscheidung gerechnet haben“, sagte er dem Handelsblatt. Mit dem Urteil (Az. C-33/20, C-155/20, C-187/20) kippte der EuGH eine jahrelange Rechtspraxis des Bundesgerichtshofes (BGH), der sich im Streit um Formfehler bei Darlehensverträgen stets auf die Seite der Banken schlug.
Jetzt gibt es mit dem EuGH-Urteil eine neue Grundlage, um Darlehen zu widerrufen. Betroffen sind mehrere Millionen Verbraucherkreditverträge, weil Banken und Sparkassen ihre Kunden nicht ordnungsgemäß belehrt haben.
Welche Art von Kredit ist von dem EuGH-Urteil betroffen?
Bei dem EuGH-Urteil geht es konkret um Autokredite. Rechtlich stehen jedoch alle Darlehensverträge im Fokus, die Verbraucher abschließen können. Es macht also keinen Unterschied, ob ein Auto, eine Küche, ein Fernseher oder was auch immer finanziert wird. Ob auch Immobilienkredite betroffen sind, ist nicht ganz klar.
„Wir vermuten, dass es keinen Verbraucherkredit gibt, der nicht widerrufbar ist. Bei keiner Kreditvergabe dürften die Anforderungen erfüllt sein, die der EuGH am Donnerstag an eine ordnungsgemäße Belehrung gestellt hat“, so Lehnen.
Was hat das Urteil für Konsequenzen?
Wenn die Bank nicht über alle Pflichtangaben richtig belehrt, dann fängt die Widerrufsfrist von 14 Tagen nicht an zu laufen. Der Verbraucher kann dann zeitlich unbegrenzt widerrufen, auch viele Jahre nach Vertragsschluss.
Wieso hat sich der EuGH jetzt mit der Materie beschäftigt?
Das Landgericht Ravensburg hat den EuGH im Frühjahr 2020 um eine höchstrichterliche Klärung gebeten. Elf Jahre nach Inkrafttreten der Europäischen Verbraucherkreditrichtlinie hat der EuGH erstmals die Gelegenheit gehabt, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen. Der Bundesgerichtshof hat sich stets geweigert, diese Fragen vom EuGH klären zu lassen. Aus eigener Initiative darf sich der EuGH darum nicht kümmern.
Wie kann es sein, dass so viele Banken bei der Kundenbelehrung anscheinend geschludert haben?
Letztlich hängt es mit der EU-Verbraucherkreditrichtlinie zusammen, die in Deutschland im Jahr 2010 umgesetzt wurde. Im Gesetz ist formuliert, dass die Bank beispielsweise klar und verständlich über den Verzugszinssatz belehren muss. Das ist der Zins, der bezahlt werden muss, wenn eine Monatsrate zu spät oder gar nicht geleistet wird.
Wie das genau erfolgt, muss die Bank entscheiden. In der Regel steht jedoch in den Verträgen drin, dass im Falle eines Zahlungsverzugs der gesetzliche Verzugszinssatz gilt. „Aber damit kann der Verbraucher nichts anfangen, weil die konkrete Höhe nicht angegeben ist“, so Lehnen. Allerdings habe der BGH das bislang anders gesehen. Und auch darauf verzichtet, den EuGH um Klärung zu bitten.
Banken hatten also keine Veranlassung, dort konkreter zu werden. Jetzt stellt der EuGH klar, dass in dem Kreditvertrag der geltende Satz der Verzugszinsen in Form eines konkreten Prozentsatzes anzugeben und der Mechanismus der Anpassung des Verzugszinssatzes konkret zu beschreiben ist.
Geht es in dem Urteil nur um konkrete Angaben zu den Verzugszinsen?
Nein, es geht auch um andere Pflichtangaben, beispielsweise die Vorfälligkeitsentschädigung.
Verbraucher haben die Möglichkeit, Darlehen vorzeitig zurückzuzahlen. In dem Fall hat die Bank allerdings einen Anspruch auf eine Vorfälligkeitsentschädigung, die den Zinsschaden der Bank für die restliche Vertragslaufzeit kompensieren soll. Im Darlehensvertrag muss geregelt sein, in welcher Höhe sie anfällt. „In den Darlehensverträgen ist aber nur zu lesen, dass sich die Vorfälligkeitsentschädigung nach den vom Bundesgerichtshof vorgeschriebenen finanzmathematischen Rahmenbedingungen berechnet. Dem BGH genügte es, wenn in den Darlehensverträgen auf seine Rechtsprechung verwiesen wurde. Dem EuGH nicht“, so Lehnen.
Was muss bei Formulierungen zur Vorfälligkeitsentschädigung beachtet werden?
Der EuGH hat entschieden, dass der Verbraucher konkret erkennen können muss, welche Kosten bei der Vorfälligkeitsentschädigung auf ihn zukommen. Mit dem Verweis auf abstrakte Rahmenbedingungen kann der Verbraucher nichts anfangen, weil er sie nicht kennt.
Deshalb hat der EuGH festgelegt, dass im Kreditvertrag die Methode für die Berechnung der bei vorzeitiger Rückzahlung des Darlehens fälligen Entschädigung in einer konkreten und für einen Durchschnittsverbraucher leicht nachvollziehbaren Weise anzugeben ist. Der Verbraucher soll in der Lage sein, die Höhe der Vorfälligkeitsentschädigung anhand der in dem Vertrag erteilten Informationen selbst nachzuvollziehen.
Was muss noch in Darlehensverträgen enthalten sein?
Wenn der Verbraucher ein Auto kaufen möchte und dafür eine Finanzierung benötigt, bekommt er in der Regel von einer Autobank ein Kreditangebot. Wenn der Verkäufer, also ein Automobilkonzern, den Kreditvertrag vermittelt, also selbst eine Finanzierung organisiert, handelt es sich um einen verbundenen Vertrag. „Das muss im Vertrag ausdrücklich erwähnt werden, wurde in der Praxis aber meist nicht gemacht“, so Lehnen
Können Verbraucher auch Kreditverträge widerrufen, wenn die Darlehen bereits getilgt wurden?
Ja, das ist jetzt möglich. Bislang haben die deutschen Gerichte entschieden, dass der Widerruf nicht mehr für wirksam erklärt werden könne, wenn die letzte Rate bezahlt wurde. Dann sei das Widerrufsrecht nämlich verwirkt. „Dem ist der EuGH jetzt mit deutlichen Worten entgegengetreten“, so Lehnen. Der EuGH habe jetzt klargestellt, dass die Banken sich nicht auf den Einwand der Verwirkung berufen können, wenn der Verbraucher nicht ordnungsgemäß belehrt wurde.
Kann der Verbraucher auch dann einen Widerruf erklären, wenn er das Fahrzeug, das er mit einem Darlehen erwarb, bereits verkauft hat?
Ja. Das Fahrzeug kann dann zwar nicht zurückgegeben werden. Aber an die Stelle des herauszugebenden Autos tritt dann der Verkaufserlös. „Der Anspruch des Verbrauchers wird dann mit dem Verkaufserlös verrechnet und man bekommt die Differenz“, so Lehnen.
Wie kann man seiner Bank den Widerruf erklären?
„Das ist sehr einfach. In jedem Kreditvertrag ist eine Widerrufsinformation abgedruckt. Da steht auch drin, wo der Widerruf hinzuschicken ist“, sagt Lehnen. Dafür sei kein Anwalt erforderlich.
Erkennt die Bank den Widerruf an, sollte der Vertrag zügig rückabgewickelt werden. Das Auto müsse dann natürlich zurückgegeben werden. Die geleisteten Zahlungen müsse die Bank dann an den Verbraucher erstatten, der seinerseits die offene Restschuld nicht mehr an die Bank zurückzahlen müsse.
Wie steht es mit dem finanziellen Ausgleich für das genutzte Fahrzeug?
Das ist nach Auffassung von Lehnen noch nicht abschließend geklärt. Klar sei, dass der Verbraucher keinen Nutzungsersatz schulde. Zu der Frage, ob und in welcher Höhe der Verbraucher für Wertverluste am Fahrzeug eintreten muss, gäbe es unterschiedliche Rechtsprechungen. Der BGH habe erst einige Grundsatzfragen behandelt. Abschließend seien diese Fragen wohl auch nur und erst vom EuGH zu beantworten. Deshalb sei wünschenswert, dass die deutschen Gerichte auch diese Frage möglichst bald zur Entscheidung vorlegen.
Was ist dem Verbraucher zu raten?
Auch wenn der Widerruf für den Verbraucher regelmäßig günstig ist, sollte nicht übereilt widerrufen werden. Der Verbraucher muss bedenken, dass er das Auto zurückgeben muss, wenn er den Widerruf erklärt, wirft Lehnen ein. Andererseits hat der Verbraucher den Vorteil, die noch offenen Raten nicht mehr zahlen zu müssen und noch Geld von der Bank erstattet zu bekommen. „Es hängt also auch immer von der bestimmten Fall-Konstellation ab“, so Lehnen.
Jedenfalls solle der Verbraucher vor dem Widerruf abklären lassen, dass die Kosten eines möglichen Rechtsstreits im Fall der Fälle von einer Verkehrsrechtsschutzversicherung gedeckt werden.
Sollte der interessierte Verbraucher jetzt noch auf eine Reaktion des BGH warten, bevor er sein Widerrufsrecht ausübt?
Nein, der BGH ist an das Urteil des EuGH gebunden. Falls sich der BGH, aus welchen Gründen auch immer, nicht an das EuGH-Urteil gebunden sehen sollte, würde die Europäische Kommission wohl in letzter Konsequenz ein Vertragsverletzungsfahren gegen Deutschland anstrengen, so Lehnen.
Mehr: Verträge aus dem Computer: Anwalt als Betreiber ist unnötig.
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