Zahlungsdienstleister Erneute Zweifel an Bilanzierung lassen Wirecard-Aktie abstürzen

Die Aktien des Zahlungsabwicklers fielen am Dienstag zeitweise um bis zu 23 Prozent.
München, Düsseldorf Es geschieht nicht alle Tage, dass eine Zeitung interne Recherchedokumente veröffentlicht. Üblicherweise steht für Journalisten der Quellenschutz an erster Stelle, der gefährdet ist, wenn geheime Papiere publik werden. Dass ausgerechnet die „Financial Times“ (FT) mit dieser Grundregel bricht, zeigt, wie hoch die Einsätze inzwischen sind.
Auf der einen Seite: die renommierte britische Wirtschaftszeitung, auf der anderen Seite: der erfolgreichste deutsche Tech-Konzern seit SAP, Wirecard. Und in der Mitte zwölf PDF-Dokumente und Excel-Dateien, die einen gewaltigen Vorwurf belegen sollen, der für Wirecard zum Mahlstein werden könnte: Hat der Konzern seine Bilanz frisiert?
Seit Dienstagmorgen lassen sich die Dokumente, die die FT von Whistleblowern erhalten haben will, auf der Zeitungs-Homepage herunterladen. Parallel erschienen zwei große Artikel, in denen die FT Zahlungsströme von Wirecard-Partnern in Dubai und Irland anzweifelt. Ihre Wirkung haben sie nicht verfehlt.
Die erneuten Zweifel an Geschäften und Bilanzierung haben die Aktie des Zahlungsdienstleisters auf Talfahrt geschickt. Am Vormittag verlor die Aktie zeitweise um bis zu 23 Prozent an Wert, am späten Nachmittag lag sie noch rund zwölf Prozent im Minus.
Im Wesentlichen geht es dabei um Wirecards Partnerunternehmen Al Alam Solutions aus Dubai, über das dem Bericht zufolge im Jahr 2016 rund die Hälfte des Unternehmensgewinns vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen erzielt wurde. Laut internen Unterlagen von Führungskräften, aus denen die FT zitiert, war Al Alam für einen Umsatz von 265 Millionen Euro und einen „Ebitda-Effekt“ von 173 Millionen Euro verantwortlich.
Al Alam ist ein sogenannter „Third Party Acquirer“, also ein Unternehmen, das für Länder, in denen Wirecard über keine eigenen Lizenzen verfügt, die Abwicklung von Zahlungen übernimmt. Der Einsatz dieser Partner ist im Zahlungsverkehrsbereich nicht ungewöhnlich, Wirecard arbeitet laut eigener Aussage mit über 100 solcher Unternehmen rund um den Globus zusammen. Praktisch keines davon erreichte jedoch offenbar die Bedeutung von Al Alam für das Konzernergebnis.
Pikant ist, welche Kunden Al Alam laut den der FT vorliegenden Unterlagen betreut hat: Im Jahr 2017 wurden demnach über Al Alam die Geschäfte von 34 wichtigen Wirecard-Kunden abgewickelt, darunter Firmen aus den USA, Europa, dem Nahen Osten, Russland und Japan. Die FT hat nach eigenen Angaben versucht, all diese Geschäftspartner zu kontaktieren. Das ernüchternde Ergebnis der Umfrage bildet den Kern der jüngsten Vorwürfe.
Demnach hatten 15 der aufgeführten 34 Firmen nie von Al Alam gehört. Acht hatten im Jahr 2017 ihr Geschäft bereits eingestellt, waren teilweise schon seit Jahren aufgelöst worden. Sechs der genannten Unternehmen antworteten nicht, fünf konnten nicht eindeutig identifiziert werden.
Die brisante Frage der FT: Hat Al Alam im Auftrag oder mit Wissen von Wirecard Kundenbeziehungen erfunden, um den Umsatz des Konzerns aufzublähen? Laut früheren Mitarbeitern soll das Büro von Al Alam in Dubai nur sechs bis sieben Leute beschäftigt haben. Dennoch sollen 2016 und 2017 jeden Monat Zahlungsflüsse von rund 350 Millionen Euro über diesen Partner stattgefunden haben. Die FT schlüsselt einige Beispiele für problematische Al-Alam-Kundenbeziehungen genauer auf.
- Cygnis Systems, ein irischer Anbieter von Prepaid-Karten, war laut irischem Handelsregister bereits im Jahr 2012 aufgelöst worden. Dennoch flossen nach den vorliegenden Unterlagen im Jahr 2017 angeblich noch jeden Monat 46 Millionen Euro über die Konten von Al Alam.
- Undurchsichtig wirkt die Zusammenarbeit mit dem US-Zahlungsabwickler CCBill, der ebenfalls im Zusammenhang mit Al Alam auftaucht. Dessen Vorstandschef Jake Powers erklärte gegenüber der FT, niemals Verbindungen zu Al Alam gehabt zu haben.
- Zudem wird der Spiele-Anbieter Gaming Online Solutions von den Philippinen genannt, für den über Al Alam 2017 jeden Monat angeblich Zahlungen von zwei Millionen Euro abgewickelt wurden. Nach Aussage des Unternehmens wurde die Geschäftsverbindung aber offenbar bereits 2016 nach drei Jahren beendet.
- Auch für die israelische Trading-Plattform Bank de Binary, die Beobachtern im Zusammenhang mit der Untersuchung betrügerischer Tradingseiten durch verschiedene Regulierer bereits ein Begriff ist, wurden angeblich noch über das Gesamtjahr 2017 Geschäfte gebucht. Dabei wurde die Bank de Binary bereits im März auf Druck der US-Aufseher geschlossen.
Vorwürfe zurückgewiesen
Wirecard wies alle Vorwürfe am Dienstag kategorisch zurück. „Der heutige Artikel in der ,Financial Times‘ ist eine Zusammenstellung von falschen und irreführenden Behauptungen, die [FT-Redakteur] Dan McCrum bereits früher in verleumderischen Artikeln aufgebracht hat und die bereits vor einiger Zeit widerlegt wurden“, hieß es in einer offiziellen Stellungnahme aus der Zentrale in Aschheim bei München.
Und weiter: „Es ist sehr bedauerlich, dass ,Financial Times‘ immer noch die Veröffentlichung eines derartig unverantwortlichen Artikels unterstützt, insbesondere nachdem wir der ,Financial Times‘ über ihre Anwälte Nachweise übersandt haben, die ein Zusammenwirken mit Shortsellern zeigen und Zweifel an deren Motivation bei der Veröffentlichung ihrer Artikel aufwerfen.“
Konzerninsider stoßen sich an dem Herausgreifen Al Alams durch die FT. Die Firma sei lediglich eine „Buchungsstelle“ gewesen, heißt es, mit der kein Kunde persönlich zu tun gehabt hätte. Kunden schlössen Verträge üblicherweise direkt mit Wirecard, die diese über die hauseigene Transaktionsplattform anbinde. Tatsächlich erklärte beispielsweise CCBill, die Firma, die jede Verbindung zu Al Alam verneinte, sie habe eine Geschäftsbeziehung zu Wirecard.
Gegenüber der FT erklärte Wirecard, alle Geschäftsbeziehungen würden regelmäßig von Wirtschaftsprüfern kontrolliert. Interne Finanzberichte gäben nur eine unvollständige Übersicht über Kundendaten, oder es würden nur Kundengruppen aufgeführt.
Für die kommende Woche will Wirecard laut Konzernkreisen eine Telefonkonferenz mit Analysten und dem Wirtschaftsprüfer Ernst & Young (EY) ansetzen, um die Vorwürfe zu entkräften. EY hatte die vergangenen Konzernabschlüsse abgesegnet und lehnte am Dienstag eine Stellungnahme unter Verweis auf Verschwiegenheitspflichten ab.
Wirecard soll dem Bericht zufolge den Kontakt zu Al Alam vor allem über seine Konzerntochter Card Systems Middle East in Dubai gehalten haben – angeblich mithilfe von lediglich einer Person, die aus einem Apartment im Burj-Khalifa-Hochhaus heraus gearbeitet haben soll.
Die Card Systems Middle East war zuletzt in die Schlagzeilen geraten, da sie laut Wirecard zwar im Rahmen der gesamtheitlichen Konzernprüfung durch EY kontrolliert worden ist, aber nicht durch einen lokalen Wirtschaftsprüfer. Das sei bisher nicht vorgeschrieben gewesen, hieß es. Aufgrund einer Gesetzesänderung in Dubai soll die lokale Bilanzprüfung nun nachgeholt werden.
Laut dem Handelsregister-Einzelabschluss trug die Card Systems Middle East 2018 zu 58,2 Prozent zum Wirecard-Jahresgewinn bei. Einer ihrer wichtigsten Profitbringer hieß in den Vorjahren Al Alam, berichtet die FT. Ähnliches gelte für die Tochter Wirecard UK & Ireland.
Rasche Aufklärung gefordert
Beobachter wie Volker Brühl, Geschäftsführer des Center for Financial Studies der Frankfurter Goethe-Universität, fordern nun eine rasche Aufklärung. Brühl rechnet damit, dass große Investoren eine Sonderprüfung der Bilanz beantragen könnten. Noch besser wäre es jedoch, wenn der Konzern selbst aktiv würde: „Wirecard könnte sich aus der Schusslinie bringen, indem man eine Sonderprüfung der Vorwürfe durch einen unabhängigen Wirtschaftsprüfer, also nicht durch EY, anordnet. Sollten sich die Vorwürfe als haltlos erweisen, wären die Zweifel an Wirecard ausgeräumt.“
Die FT berichtet seit 2015 kritisch über Wirecard. Den Höhepunkt erreichte der Konflikt zu Jahresbeginn, als in mehreren Artikeln über Bilanzunregelmäßigkeiten in Asien berichtet wurde. Der Hauptvorwurf: angebliche Bilanzmanipulation und Dokumentenfälschung. Demnach habe der für Asien zuständige Finanzchef sechs Kollegen in Singapur unterrichtet, wie die eigenen Bücher möglichst unauffällig manipuliert werden könnten – auch um hohe Ertragsziele zu erfüllen.
Spekuliert wurde auch über weitere Unregelmäßigkeiten im Asiengeschäft. Die Staatsanwaltschaft in Singapur beauftragte daraufhin drei Durchsuchungen im örtlichen Wirecard-Büro, bei denen über 200 Kartons sichergestellt wurden.
Wirecard leitete eine externe Untersuchung durch die renommierte Anwaltskanzlei Rajah & Tann (R&T) ein. Auszüge des Berichts veröffentlichte man Ende März: R&T fand demnach Unregelmäßigkeiten und Fehlbuchungen in früheren Bilanzen, jedoch nur in der Höhe von etwa 5,5 Millionen Euro. Sie wurden berichtigt.
An den Märkten muss Wirecard seit Jahren mit plötzlichen Kurseinbrüchen kämpfen. Aufgrund des Verdachts, dass sogenannte Shortseller im Umfeld der FT-Berichte auf einen Kursverfall der Wirecard-Aktie spekulieren, verhängte die Börsenaufsicht Bafin Mitte Februar 2019 ein zweimonatiges Verbot von Leerverkäufen.
Zu diesem Zeitpunkt hatte die Wirecard-Aktie in der Spitze bis zu 40 Prozent an Wert verloren. Die Aufsicht griff damit zu einem scharfen Schwert: Lediglich in der Finanzkrise hatte es ähnliche Verbote gegeben, jedoch für Finanzwerte im Allgemeinen.
„Wir werden den neuerlichen Vorfall in unsere ohnehin noch laufende Marktmanipulationsuntersuchung einfließen lassen. Dabei stehen wir in sehr enger Abstimmung mit der Staatsanwaltschaft München“, erklärte die Bafin am Dienstag. „ Für ein erneutes Netto-Leerverkaufsverbot sehen wir aktuell keine Anhaltspunkte, da die Situation nicht mit der im Februar zu vergleichen ist.“
Wirecard hatte im Frühjahr Strafanzeige gestellt. Seither ermittelt die Münchener Staatsanwaltschaft, ob es eine Verbindung zwischen FT-Journalisten und Shortsellern gegeben hat. Im Juli wurde bekannt, dass auch die Bafin mehrere Personen, darunter FT-Journalisten, angezeigt hat. Waren Spekulanten frühzeitig über FT-Artikel informiert? Die Untersuchungen dauern an, teilte die Staatsanwaltschaft am Dienstag mit.
Die FT hatte zuletzt eine eigene Untersuchung durch die Londoner Kanzlei RPC in Auftrag gegeben. Anfang Oktober teilte die Zeitung mit, dass sie sich vollumfänglich entlastet sähe. Es gebe keinerlei Hinweise auf Absprachen zwischen Spekulanten und Reportern. Bei der Staatsanwaltschaft hieß es, man schaue sich nun auch die RPC-Unterlagen an.
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