Anatomie Digitaler Leichnam für die Lehre

Für die Anatomie-Module besuchen Medizinstudierende zuerst einen Ethik-Kurs.
Düsseldorf „War die Leiche, die man hier seziert, eine Oma, und hatte sie eine Familie?“, fragte sich die Medizinstudentin Setare Torkieh, als sie das erste Mal das Gesicht des toten Körpers sah. Drei Wochen habe sie an dem Körper schon gearbeitet: Haut und Muskeln entfernt, Organe entgenommen. Sie studiert in Göttingen. „Die Anatomie-Module sind die härtesten im Medizinstudium“, sagt sie heute.
Thomas Dresbach lehrt an der Uni Göttingen Medizin und kennt die Herausforderungen für Studierende bei Anatomie-Kursen. „Ethisch sind Studierende dazu verpflichtet, so viel aus dem Präparierkurs zu lernen wie nur möglich.“ Schließlich sei es ein Privileg, an toten Menschen zu lernen. Sezierte Organe ließen sich auch nicht mehr zurückholen. Drei Monate haben Studierende in Göttingen Zeit, um den echten menschlichen Körper zu verstehen.
Seit Herbst 2017 bietet Dresbach eine digitale Lernmethode an: 3D-Tische des Unternehmens Anatomage, das seinen Sitz im Silicon Valley hat. Jüngst gelang es dem Unternehmen, einen 31 Wochen alten digitalen Fötus in die Visualisierung des 3D-Tischs zu programmieren. Das Update führt dazu, dass Mediziner und Juristen das Geschäftsmodell infrage stellen.
Start mit Software für Zahnärzte
Auf den Anatomie-Kurs verzichten könnte die Studentin Torkieh trotz des 3D-Tischs nicht. Die Technologie sei aber praktisch. Die Tischplatte besteht aus einem Display, auf dem die Visualisierung des Menschen zu sehen ist. Per Klick können sich Anwender durch die verschiedenen Körperschichten und -regionen klicken. Ausgewählte Organe haben einen Steckbrief, der über Merkmale und Funktionen informiert.
„Man kann Lernpakete erstellen und sich bestimmte Muskelgruppen mit ausgewählten Gefäßen und Nerven anschauen“, sagt Torkieh. Bei einem Leichnam habe man hingegen immer den Körper in seiner gesamten Komplexität vor sich. „Diese interaktive Lernform ist sehr hilfreich“, sagt sie. Dresbach schließt sich der Studentin an: „Der 3D-Tisch fördert mehrere Lerntypen.“
Die Bedienung des 3D-Tischs sei laut Torkieh „selbsterklärend“ und stehe deswegen in Göttingen in der Bibliothek. „Wir können uns medizinische Bilder von zum Beispiel Schlaganfallpatienten anschauen.“
Wolfgang Kummer lehrt an der Universitätsklinik in Gießen und hat sich bewusst gegen den Anatomage-Tisch entschieden. „Wir können nicht so viele 3D-Tische anschaffen, dass alle Studierenden Zugang dazu haben. Dafür ist die Technologie zu teuer“, sagt er. Der Preis liegt zwischen 60.000 und 70.000 Euro pro Tisch und wird dem Unternehmen zufolge hauptsächlich von medizinischen Bildungseinrichtungen erworben. „100.000 Medizinstudierende nutzen die Technologie weltweit“, sagt Jack Choi, Gründer und CEO von Anatomage. In Deutschland zählen die Uniklinik Göttingen, die Ruhr-Uni Bochum und die medizinische Fakultät in Heidelberg zu den Anwendern.
Anatomage wurde 2004 gegründet und ist mit 3D-Visualisierungen für Zahnmediziner am Markt gestartet. Als ein Kunde sich 2010 bei Choi mit der Idee meldete, solche Visualisierungen auch in der Anatomie einzusetzen, startete er die Entwicklung des 3D-Tischs. „Seit 2006 ist Anatomage profitabel und beschäftigt derzeit 100 Mitarbeiter“, sagt Choi. Neben den 3D-Tischen werden auch Software für Radiologen und chirurgische Geräte verkauft.
Daten stammen aus öffentlichen Quellen
Die digitalen Kö rper können auf die 3D-Tische geladen werden. Die Daten stammen von Menschen, die ihren Leichnam zu Lebzeiten der Forschung und der medizinischen Lehre zur Verfügung gestellt haben. Anatomage selbst nimmt keine Körperspenden an, sondern verwendet Daten aus öffentlichen Quellen.
Im Rahmen des vom britischen Gesundheitsdienstes durchgeführten Visible Human Project wurden zum Beispiel 2D-Bilder von Leichen aufgenommen, die mit klinischen Daten zu 3D-Bildern von Anatomage angereichert wurden. Personenbezogene Daten würden über das 3D-Modell nicht preisgegeben werden, sagt CEO Choi und ergänzt: „Wir verändern auch die Gesichtszüge an dem digitalen Modell.“
Der neueste Technologiesprung des Unternehmens: eine digitale Schwangerschaft. Mittels gebündelter MRT-Daten wurde ein Fötus digitalisiert. Die Simulation ermöglicht einen Einblick in den Stoffaustausch zwischen Mutter und Kind. Das wirft ethische Fragen auf.
Stefan Heinemann ist Wirtschaftsethiker und findet einen digitalen Fötus unbedenklich: „Das Recht auf eine bestmögliche medizinische Versorgung ist moralisch höher zu bewerten als die absolute Nichtnutzung eines toten Körpers – natürlich unter strengster Wahrung der Würde eines Menschen auch nach dem biologischen Tode.“
Einwilligungsrecht des Körperspenders
Ganz so einfach wie die ethische Bewertung der Technologie scheint die Rechtslage hingegen nicht. Der Jurist Ulrich Grau der Kanzlei DB-Rechtsanwälte verweist darauf, dass Firmen die Einwilligung eines Toten bräuchten, um seine Daten zu verwenden: „Wenn Menschen ihren Körper zum Beispiel an ein Anatomie-Institut in Berlin spenden, haben sie in diesem konkreten Sachverhalt gespendet.“ Bei dem Fall, dass eine Firma einen toten Körper digital rekonstruiere und weltweit in Kliniken vertreibe, handle es sich um einen anderen Sachverhalt, über den ein Spender aufgeklärt werden müsste. „Die Firma braucht ein darauf ausgelegtes Einwilligungsmanagement“, sagt Grau. Anatomage teil Handelsblatt Inside dazu mit: „Wir verwenden keine Bilder, für die wir keine Erlaubnis haben.“
Auch Anwender Dresbach ist skeptisch. Um das Update in Göttingen auf den Tischen zu installieren, fordert der Dozent eine genaue Dokumentierung über die Herkunft der MRT-Daten. Bis es so weit ist, lernen Studierende wie Setare Torkieh mit erwachsenen 3D-Patienten.
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