GAIA-Chef Weiss Wir waren mal die meistgehasste Firma

„Wir sind eine Firma, die Forschung und Entwicklung macht. Wir können kein Marketing."
Foto: Raimar von Wienskowski
Köln Die Hamburger Firma GAIA hat die Geschäftsräume in der ersten und dritten Etage eines unscheinbaren Backsteingebäudes aus den 1980ern. Hinter dem Haus fließt ein Nebenarm der Alster, gegenüber sind Wohnhäuser im gleichen Backstein-Baustil. Die Büros wirken leer, einen Empfang gibt es nicht „Es sind nur wenige Leute hier“, sagt Mario Weiss kurz nach der Begrüßung. Der gelernte Arzt hat die Firma 1997 gegründet und leitet sie noch immer als Geschäftsführer.
Seit vielen Jahren entwickelt Weiss Software für den Gesundheitsbereich. „Früher waren wir mal die meistgehasste Firma der Pharmaindustrie“, sagt er. Damals hätte GAIA für die AOK Online-Lernmodule entwickelt, die Ärzte über Medikamente aufklärt. Jetzt codet das GAIA-Team fleißig digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) und hat sich einen neuen Feind gemacht: den Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV-Spitzenverband).
Der Grund für die Vorwürfe des GKV-Spitzenverbands: Vor kurzem hat GAIA eine DiGA gegen Multiple Sklerose in die Versorgung gebracht. Sie heißt levidex und kostet die Kasse bei Verordnung einmalig rund 2077 Euro. Denn DiGA werden vom Arzt verschrieben, die Kasse erstattet die Kosten.
Kassen kritisieren MS-DiGA für mehr als 2000 Euro
„2000 Euro für eine App, die noch nicht mal einen Patientennutzen nachgewiesen hat, klingt nach dem Ausnutzen der Gesetzeslücke zur Gewinnoptimierung“, schreibt der GKV-Spitzenverband auf Anfrage von Handelsblatt Inside. DiGA werden im ersten Jahr ohne Wirksamkeitsnachweis erstattet, danach muss eine Studie den sogenannten positiven Versorgungseffekt der Anwendung belegen, wenn die Kasse weiterbezahlen soll.
Weiss hält die Kritik des GKV-SV für überzogen: „Kommerziell lohnt sich es für die Kassen, wenn MS-Patienten unsere DiGA nutzen.“ Eine begleitende Studie mit 421 MS-Patienten hätte ergeben, dass mit levidex mittlere Jahrestherapiekosten innerhalb von sechs Monaten von 9735 auf 7474 Euro sinken würden. Allerdings ist diese Studie noch nicht vom zuständigen Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) akzeptiert. Levidex ist bislang lediglich vorläufig im DiGA-Verzeichnis gelistet.
Bei der Preisdiskussion darf nicht vergessen werden, dass ein dritter Spieler nötig ist, wenn DiGA an den Patienten gebracht werden sollen: die Ärzte. Sie sind bei den Anwendungen von GAIA bisher skeptisch. Sechs DiGA hat GAIA in das BfArM-Verzeichnis gebracht, davon vier mit Wirksamkeitsbeleg. Neben dem ebenfalls Hamburger Start-up HelloBetter gehört GAIA damit zu den größten DiGA-Fabriken.
Der DiGA-Jahresbericht des GKV-Spitzenverbands, der vor kurzem veröffentlicht wurde, zeigt aber, dass Ärzte kaum GAIA-Apps verschreiben. Die DiGA deprexis gegen Depressionen hat seit der Aufnahme ins Verzeichnis bis September 2022 immerhin 10.000 Verschreibungen. Hier kooperiert GAIA bei der Vermarktung mit dem französischen Pharmaunternehmen Servier. Die fünf anderen DiGA wurden von Ärzten zum Teil deutlich seltener verschrieben.
Kassenschlager sind Zanadio gegen Adipositas und Vivira gegen Rückenschmerzen mit 28.000 bzw. 27.000 Verschreibungen. „Wir sind eine Firma, die Forschung und Entwicklung macht“, begründet Weiss die geringen Verordnungszahlen. „Wir können kein Marketing.“
Das soll mit einer neuen Personalie jetzt anders werden. Seit gut eineinhalb Jahren ist der gebürtige US-Amerikaner Stan Sugarman als Chief Commercial Officer (CCO) für den Vertrieb zuständig. Zuvor hat er in Führungspositionen bei Salesforce und Gruner und Jahr gearbeitet. Weiss kennt ihn von ihrer gemeinsamen Studienzeit an der Rotterdam School of Management.

Sugarman ist CCO bei GAIA
Foto: Raimar von Wienskowski
Sugarman sieht großes Potenzial bei seinem neuen Arbeitgeber: „Wahrscheinlich ist GAIA wie Salesforce vor 20 Jahren“, sagt er. „GAIA-Anwendungen sind in jeder Sprache verfügbar, sie können über Schnittstellen an jede Software angeschlossen werden und es gibt Studien dahinter, die zeigen, dass sie wirken.“ Die Apps würden ohne Arzt-Interaktion funktionieren, fügt Weiss hinzu, und seien daher skalierbar.
Einen ersten großen Kunden in den USA hat GAIA im vergangenen Jahr gewonnen: Die Veterans Affairs, die Krankenversicherung des US-Militärs, bietet deprexis ihren 15 Millionen Veteranen und Native American Indians jetzt an. „In Frankreich haben wir ein positives Votum” sagt Weiss. Man sei dort derzeit dabei, einen Preis zu verhandeln.
Deutlicher Gewinnsprung im Jahr 2020
Einen Wendepunkt für das Unternehmen brachte das erste Coronajahr 2020. Erwirtschaftete GAIA im Jahr zuvor laut der Datenbank North Data lediglich einen Umsatz von 8,5 Millionen und einen Gewinn von rund einer Million Euro, waren es im Jahr 2020 plötzlich 21 Millionen Euro Umsatz und 7,5 Millionen Euro Gewinn. „In diesem Jahr kamen die ersten großen Cashflows ins Unternehmen, vor allem aus den USA“, sagt Weiss. „Wir haben gesagt: Wir versuchen jetzt mal ins Geld zu gehen.“
Weiss verkaufte 24 Prozent seines Unternehmens an das Family Office des Grafen Waldburg-Zeil. Die restlichen Anteile gehören Weiss selbst und Mitarbeitern. Von Fremdinvestoren und Banken wolle man kein Geld nehmen. „Wir generieren genug, um in die Forschung zu investieren“, sagt Weiss. „Deshalb sind wir auch kein Start-up, eher spießiger Mittelstand.“ Und ja: Im vergangenen Jahr sei das Unternehmen rentabel gewesen, trotz einer stark steigenden Anzahl von Mitarbeitern. Mehr als 200 Angestellte würde er inzwischen beschäftigen.
Auch ein Büro in den USA hat Weiss aufgemacht, in Cambridge direkt gegenüber vom Massachusetts Institute of Technology (MIT). „In den USA ändert sich gerade das Klima rund um Digital Health“, sagt er. „Der Hype geht zurück, Anwendungen mit Wirksamkeit werden interessanter.“ Auch Asien sei für GAIA ein spannender Markt, vor allem Südkorea, Taiwan und Japan.
Ganze 14 Wortmarken hat Weiss laut dem Deutschen Patent- und Markenamt im vergangenen Jahr angemeldet. Darunter Namen wie attexis, klariva oder verdiga. Zwei bis drei weitere DiGA will er in diesem Jahr an den Start bringen, Anwendungen für die Krankheiten Rheuma, Borderline und erhöhter Blutdruck (Hypertonie) seien weit fortgeschritten. Eine kleine Entwarnung in Richtung GKV-Spitzenverband gibt es zudem. Die Preise würden niedriger ausfallen als bei der MS-DiGA, verrät Weiss. Denn bei den drei Krankheiten gäbe es mehr Patienten und damit potenzielle Nutzer als bei Multiple Sklerose.
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