Physiotherapie Enge Grenzen für die Behandlung per Webcam

(Foto: IMAGO/Frank Sorge)
Köln Das Versprechen ist verlockend: Sofort verfügbare Termine bei Physiotherapeuten will das Onlineportal Physioflix vermitteln. Sonst dauert es oft Wochen, bis für Kassenpatienten ein Spezialist etwa nach einer Sportverletzung zu sprechen ist. Die Einbindung von Fernbehandlung macht die schnelle Terminbuchung möglich. Wann immer therapeutisch verantwortbar, sollen Behandlungen nicht vor Ort in der Praxis, sondern per Videosprechstunde stattfinden.
Hinter dem Onlineportal steht die Deutsche Arzt AG. Das aus dem Therapiezentrumsbetreiber Novotergum hervorgegangene Unternehmen hat Physioflix Anfang 2021 gestartet – und schöpft damit eine regulatorische Neuerung voll aus: Auch Physiotherapeuten dürfen nun Videosprechstunden anbieten. „Außerhalb der Stoßzeiten haben Physiotherapeuten oft noch freie Termine, die viele Patienten auch wahrnehmen können, wenn sie dafür nirgendwo hinfahren müssen“, sagt Andrea Niehaus, Prokuristin bei der Deutschen Arzt AG. Umgekehrt sparten sich Therapeuten Wege für Hausbesuche.
Während Ärzte in Deutschland seit einer Änderung der Berufsordnung im Juni 2018 prinzipiell Videosprechstunden anbieten dürfen, war das für Physiotherapeuten und andere Heilmittelerbringer tabu. Wegen Corona gibt es seit März 2020 eine Ausnahmeerlaubnis, die nun verstetigt wird. Das im vergangenen Sommer in Kraft getretene Digitale-Versorgung-und-Pflege-Gesetz (DVPMG) hat dafür den Grundstein gelegt. Im Oktober 2021 hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) – bestehend aus Spitzenverbänden von Ärzten, Krankenhäusern und Krankenkassen – die Heilmittel-Richtlinie entsprechend geändert.
Krankengymnastik vorm Laptop
Festgelegt werden muss noch, in welchen Fällen genau die Videosprechstunde von Krankenkassen erstattet werden. Auf der Zielgeraden sind die entsprechenden Verhandlungen zwischen den Berufsverbänden und dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV). Dort heißt es, das gemeinsame Ziel sei ein fließender Übergang zu den Corona-Sonderregelungen, die zuletzt noch einmal bis Ende März 2022 verlängert worden waren. Unterschiedliche Vorstellungen der Verhandler gibt es bei der Vergütung, laut dem Deutschen Verband für Physiotherapie (ZVK) ist ein Schiedsverfahren wahrscheinlich.
Einigkeit herrscht offenbar aber bei den möglichen telemedizinischen Anwendungsfeldern. Videosprechstunden sollen unter anderem im Rahmen der allgemeinen Krankengymnastik und der Atemtherapie etwa bei der Stoffwechselerkrankung Mukoviszidose möglich sein. Für diese Behandlungsfelder galten auch die Corona-Ausnahmen schon. „Die Sonderregelungen geben eine gute Orientierung“, sagt ZVK-Geschäftsführer Thorsten Vogtländer. „In manchen Punkten wird es aber auch Abweichungen geben.“
Bereits aus der G-BA-Richtlinie ist ersichtlich: Insgesamt werden der Telemedizin enge Grenzen gesetzt. Der persönliche Kontakt habe Vorrang, heißt es dort. Zudem muss künftig – abweichend von den Corona-Regelungen – die erste Behandlung vor Ort stattfinden. Von einem „regulatorischen Minenfeld“ spricht Jochen Roeser, Chef der Deutschen Arzt AG. Das Leistungsangebot von Physioflix werde erst einmal durch den Konzernverbund mit seinen über 500 staatlich geprüften Physiotherapeuten abgesichert. Doch auch unabhängige Praxen können sich der Plattform anschließen.
Eine weitere Herausforderung neben der Regulatorik: Noch ist das Patienteninteresse gering. Für den Gesamtmarkt schätzt ZKV-Geschäftsführer Vogtländer, dass bisher weniger als ein Prozent aller Konsultationen online sattfinden. Bei Physioflix waren es bisher 300 telemedizinische Beratungen. „Viele Menschen verbinden Physiotherapie vor allem damit, dass sie Krankengymnastik vor Ort bekommen“, sagt Roeser. „Physiotherapie vor Ort wird immer seine Berechtigung behalten. Dass es gleichwohl Einsatzbereiche gibt, in denen Telemedizin prima funktioniert, muss erst gelernt werden.“
Gesundheits-App wollen Videosprechstunden integrieren
Das Umdenken vorantreiben will auch eine wachsende Zahl von Start-ups mit digitalen Physiotherapie-Programmen zur Selbstbehandlung. Dreh- und Angelpunkt sind aufgezeichnete Videos von Übungen zum Nachmachen. Für die Anbieter wäre es attraktiv, in ihren Apps auch Videosprechstunden anzubieten. „Es kommt immer wieder vor, dass Nutzer sich unsicher sind, ob sie eine Übung richtig ausführen“, sagt Exakt-Health-Gründer Philip Billaudelle, dessen App bei Sportverletzungen genutzt wird. „Eine ergänzende persönliche Beratung wäre deswegen sehr sinnvoll.“
Eine Hürde bei solchen Hybridangeboten ist die Finanzierung. Laut G-BA stellen aufgezeichnete Videofilme oder Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGa) explizit keine telemedizinischen Leistungen im Sinne der Heilmittel-Richtlinie dar. Doch mit dem DVPMG hat sich eine andere Tür für die Anbieter geöffnet. Dort heißt es, dass Leistungen von Heilmittelerbringen, die „im Zusammenhang mit digitalen Gesundheitsanwendungen“ erbracht werden, künftig vergütet werden. Ein DiGa-Hersteller könnte also nicht nur den Preis der App berechnen, sondern auch die geleistete Videosprechstunde.
Doch noch scheuen viele App-Anbieter die Zulassungsprozesse. So spielen etwa bei der DiGa Vivira, die sich an Rücken- oder Kniepatienten richtet, Videosprechstunden bisher keine Rolle. Eine Stellungnahme zur künftigen Ausrichtung will der Hersteller nicht abgeben. Konkurrent Herodikos kombiniert zwar seit Jahresbeginn bereits sein App-basiertes Bewegungstraining mit regelmäßigen telemedizinischen Sprechstunden. Doch statt auf eine „App auf Rezept“ setzt das Unternehmen auf Selektivverträge mit Krankenkassen. Erreicht werden so aktuell elf Millionen gesetzlich Versicherte, die das Programm zuzahlungsfrei nutzen können.
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