Handelsblatt Wirtschaftsclub Das sind die Strategien der Top-Experten für den digitalen Wandel

Johannes Rath (v.l., Signal Iduna), Sabine Scheunert (Mercedes-Benz) und Dr. Markus Pertlwieser von der Deutschen Bank diskutieren mit Sebastian Matthes, Stellvertreter des Chefredakteurs und Head of Digital beim Handelsblatt.
Frankfurt Eine Bank, eine Versicherung, ein Autohersteller – auf den ersten Blick scheinen diese Unternehmen vor sehr unterschiedlichen Herausforderungen zu stehen. Doch eins haben sie gemein: Sie müssen ihre Unternehmen und Geschäftsmodelle in das digitale Zeitalter bringen. Dabei reicht es nicht, digitale Technologien einzusetzen und die neuen Wünsche der Kunden zu erfüllen; die Unternehmen müssen gleichzeitig ihre Mitarbeiter und Führungskräfte für die Veränderungen gewinnen.
Wie all das gelingen kann, haben die Digitalexperten der Deutschen Bank, von Signal Iduna und Mercedes-Benz auf einer Veranstaltung des Handelsblatt Wirtschaftsclubs in Frankfurt diskutiert. Im Gespräch mit Sebastian Matthes, Stellvertreter des Chefredakteurs und Head of Digital beim Handelsblatt, wurde schnell klar: Sechs Elemente dürfen in keiner Digitalstrategie fehlen.
1. Organisationsstruktur erneuern
Obwohl viele beim Thema Digitalisierung zunächst an Algorithmen und Maschinen denken: Am Anfang des digitalen Wandels in Unternehmen stehen die Menschen. Eine neue Organisationsstruktur und ein Kulturwandel im gesamten Unternehmen gelten unter Experten als zentrale Erfolgsfaktoren einer Digitalisierungsstrategie.
Dazu gehören flache Hierarchien und interdisziplinäre Zusammenarbeit über das gesamte Unternehmen hinweg. „Man muss die Rollen von Führungskräften und Mitarbeitern neu definieren“, sagt Markus Pertlwieser, Digitalchef für das Privat- und Firmenkundengeschäft der Deutschen Bank. „Mitarbeiter führen mehr und Führungskräfte arbeiten mehr mit.“
Die Veränderungen in Unternehmen lassen sich zudem leichter umsetzen, wenn die Mitarbeiter früh einbezogen werden. Sabine Scheunert, Vice President Digital & IT Sales/Marketing bei Mercedes-Benz, hat das bei ihrer Digitalstrategie getan. „Wir nehmen unsere Mitarbeiter sehr früh mit ins Boot, anstatt ihnen etwa Änderungen aufzuerlegen“, sagt sie.

Besucher der Veranstaltung diskutierten mit den Experten über die Bewältigung des digitalen Wandels.
Jeder Einzelne im Unternehmen müsse Verantwortung übernehmen, meint Johannes Rath, der als Digitalchef bei Signal Iduna auch die Entwicklung des Transformationsprogramms „VISION2023“ verantwortet. Er will seine Mitarbeiter für Neues begeistern und appelliert zugleich: „Niemand kann sagen, dass ihn die Digitalisierung in unserem Haus nichts angehe.“
2. Separate Innovationseinheiten schaffen
Bei der Deutschen Bank wird die moderne Organisationsstruktur bisher am stärksten in der sogenannten Digitalfabrik in Frankfurt-Sossenheim gelebt. „Dort gibt es keine Türschilder, die Kollegen setzen sich so zusammen, wie es für die aktuellen Projekte gerade nötig ist“, erklärt Pertlwieser. Die Einheit wurde vor drei Jahren gegründet und ist Ideenschmiede und Entwicklungslabor. „Viele der rund 800 Kollegen haben schon vorher bei uns gearbeitet, immer wieder kommen aber auch externe Partner hinzu“, so der Digitalchef.
Solche ausgegliederten Vorzeigestandorte betreiben viele große Firmen. Bei Signal Iduna sind dies die „Signals Open Studios“ in Berlin-Mitte. „Dort pflegen wir den Kontakt zu jungen Unternehmen aus unserer Branche, suchen aber auch Schnittstellen zu anderen Industrien“, sagt Rath.
Auch ein Unternehmen, das Start-ups in der Lebensmittelbranche gründet, habe dort einige Büroplätze gemietet. „Auf den ersten Blick hat das nichts mit unserem Kerngeschäft zu tun, tatsächlich ist Signal Iduna aber einer der größten Versicherer im Lebensmittelhandwerk und wir wollen verstehen, wie die nächste Generation in der Branche tickt“, sagt Rath.
Separate Innovationseinheiten können insbesondere für große Konzerne sinnvoll sein. Im geschützten Raum können Ideen entwickelt werden, die innerhalb der festgefahrenen Strukturen schon im Keim erstickt würden. Hier herrscht weniger Druck, bestehende Produkte zu verkaufen, in den Mittelpunkt rücken die Bedürfnisse der Kunden. Allerdings: Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem das junge Pflänzchen mit dem etablierten Konzern verbunden werden muss. Dann kommt es darauf an, die Innovationskraft aufrechtzuhalten.
3. Trial and Error statt Perfektionismus
Zu den Dingen, die Konzerne von Start-ups lernen können, gehört auch eine gesunde Fehlerkultur. Man müsse nach dem Prinzip Trial and Error vorgehen, statt gleich das komplett ausgereifte Produkt bereitstellen zu wollen, sagt Pertlwieser von der Deutschen Bank. Gerade in Deutschland, mit seiner viel gelobten Ingenieurskunst, kostet das viele etablierte Firmen Überwindung.
Die Vorteile sind jedoch enorm: Wer früh mit einer ersten Produktversion an den Markt geht, hat mehr Zeit, Kunden zu gewinnen. Und falls das Produkt nicht angenommen wird, kann es entweder angepasst werden oder die ganze Idee wird in einem Stadium verworfen, in dem die Investitionen noch überschaubar sind.
Digitale Produkte wie Apps haben dabei einen besonderen Vorteil: „Wir können einfach messen, wie gut sie bei den Kunden ankommen“, sagt Scheunert von Mercedes-Benz. Kundenrückmeldungen und Bewertungen in App-Stores geben hilfreiche Informationen und die monierten Probleme können womöglich rasch behoben werden.
Wer schon in einer frühen Phase an den Markt geht, kann sich zudem teure Marktstudien und Kundenumfragen sparen. Letztere sind ohnehin nur bedingt hilfreich – wer hätte vor zwölf Jahren schon gesagt, dass er unbedingt ein iPhone braucht?
4. Kooperationen mit Start-ups pflegen
Als zentraler Erfolgsfaktor gelten bei den Digitalisierungsexperten auch Kooperationen. „Kein Unternehmen wird den digitalen Wandel ohne Partner bewältigen“, sagt Pertlwieser. „Große Innovationen gelingen selten allein.“ In der Bankenbranche setzt man auf Fintechs: Sie helfen, in kurzer Zeit die Produkte und den Service zu verbessern.
Das Pendant in der Versicherungsbranche sind Insurtechs. Signal Iduna hat gemeinsam mit dem Start-up Perseus bereits eine digitale Cyberversicherung entwickelt. Die Versicherungsplattform Element und das Start-up Saleshero aus Kalifornien werden mit Risikokapital unterstützt.
Auch Mercedes-Benz pflegt weltweite Kooperationen. „Mithilfe des Start-ups Anagog konnten wir unsere EQ-Ready-App entwickeln“, berichtet Scheunert. Über die Sensoren des Smartphones erkennt die App, ob der Kunde sich zu Fuß, mit dem Fahrrad, dem Bus oder mit dem Auto fortbewegt und analysiert, ob sich ein Elektroauto für ihn eignet. „Ohne die Kooperation hätten wir die App nicht so schnell auf den Markt bringen können“, so die Managerin.
5. Den Kontakt zum Kunden behalten
Produktlieferant kontra zentrale Anlaufstelle für den Kunden – wenn sie ihre Digitalstrategie entwickeln, müssen sich Unternehmen entscheiden. Für die drei Gäste im Wirtschaftsclub-Gespräch ist die Sache klar: „Wir wollen uns nicht auf die Rolle des Produzenten und Infrastrukturanbieters zurückziehen“, sagt Deutsch-Banker Pertlwieser.
Stattdessen will das größte deutsche Geldhaus eine Plattform aufbauen. Dort werden nicht nur die eigenen Produkte angeboten, sondern auch solche von Wettbewerbern. Umgesetzt ist die Idee schon beim sogenannten Zinsmarkt. Darüber können Deutsche-Bank-Kunden Festgeldkonten bei anderen Banken eröffnen.

Die Digitalexpertin erläutert ihre Ausführungen.
Produkte und Dienstleistungen, die über das eigene Kerngeschäft hinausgehen, können auf Plattformen ebenfalls angeboten werden. Rath von der Signal Iduna will nicht mehr nur Risiken absichern, sondern „die Lebensqualität der Kunden erhöhen“. Ein Beispiel: Er will Bäckern helfen, ihre Produktion zu kalkulieren.
Auch Mercedes-Benz sei längst mehr als ein Autohersteller, erklärt Scheunert, „Unsere Mobilitätsdienste wie Moovel, Mytaxi und Blacklane haben bereits 25 Millionen Kunden.“ Das soll weiter ausgebaut werden. Das Ziel solcher neuen Dienste ist stets dasselbe: Die Unternehmen versuchen in möglichst vielen Lebensbereichen ihrer Kunden relevant zu sein und laufend mit ihnen in Kontakt zu treten.
6. „Mobile first“, aber nicht „digital only“
Trotz aller digitalen Euphorie: Die Manager halten auch an Bewährtem fest. „Das autonome Fahren steht auf unserer Agenda, aber Sicherheit gehört zu unseren Kern-Assets, deshalb nehmen wir das Thema besonders ernst“, sagt Scheunert. Dabei wird in Kauf genommen, dass andere Unternehmen mit ihren Entwicklungen schneller sind.
Pertlwieser will derweil nicht an den Bankfilialen rütteln: „Ich glaube an mobile first, aber nicht an digital only, wir müssen auch in Zukunft persönlich vor Ort und am Telefon für unsere Kunden erreichbar sein.“ Ähnlich sieht es Rath: „Wir setzen auf verschiedene Kanäle: Wenn wir bei einfachen Anfragen Kapazitäten sparen können, sind wir in der Lage, bei komplexen Fragen eine ausführlichere persönliche Beratung anzubieten.“
Das Fazit der Diskussionsrunde formuliert Markus Pertlwieser so: „Wirklich digital sind wir, wenn wir nicht mehr darüber sprechen.“ Für jüngere Generationen werde das selbstverständlich sein – so wie für uns heute die Elektrizität.
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