Digitale Arbeitswelt am Scheideweg Fluch und Segen

Droht Deutschland die „Uber-isierung“?
Viele Deutsche, mit denen ich spreche, wundern sich über die Wahlen in den USA und die Phrasendrescherei bestimmter Kandidaten. Es ist tatsächlich schwer zu begreifen, dass sich diese Präsidentschaftskandidaten um das mächtigste Amt dieser Welt bewerben.
Das wird aber leichter verständlich, wenn man sich die jüngste Wirtschaftsgeschichte anschaut. Populistische und nationalistisch gesinnte Kandidaten verzeichnen immer dann Erfolge, wenn die Konjunktur schlecht läuft. Das durchschnittliche Lohnniveau ist in den USA in den vergangenen Jahrzehnten gleich geblieben; seit der Wirtschaftskrise 2008 verfügen die reichsten zehn Prozent der Amerikaner über drei Viertel des Vermögens, während der Anteil am Vermögen der übrigen 90 Prozent nicht größer ist als der Anteil ihrer Großeltern zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise.
Die Zukunftsaussichten sind kaum besser. Gegenwärtig erzielen Unternehmen zwar Spitzenerträge, viele haben aber einen Großteil ihrer Erträge im Ausland versteckt.
![Der Autor ist derzeit Holtzbrinck Fellow der American Academy in Berlin. Zuletzt erschien sein Buch „Raw Deal“. (Bild: Annette Hornischer/American Academy [M])](/images/steven-hill/13019756/4-format2012.jpg)
Der Autor ist derzeit Holtzbrinck Fellow der American Academy in Berlin. Zuletzt erschien sein Buch „Raw Deal“.
(Bild: Annette Hornischer/American Academy [M])
Die größten Unternehmen unterliegen lediglich einem effektiven Steuersatz von unter 13 Prozent – dieser ist niedriger als der der meisten Mittelschichtsfamilien. Der Anteil der von Unternehmen gezahlten Bundessteuern ist von 33 Prozent im Jahr 1952 auf jetzt elf gefallen. Diese Unternehmen investieren nicht mehr in den USA, und das Wirtschaftswachstum stagniert.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass viele Amerikaner Sympathien für populistische Kandidaten hegen, die nur deswegen auffallen, weil sie laut reden. Halten Sie sich also gut fest: Die US-Präsidentschaftswahlen werden einer Achterbahnfahrt gleichen.
Kleinteilige Teilzeitjobs ohne Absicherung oder Sicherheit
Ein Hauptaspekt in puncto Arbeitsplatzabbau ist die drastische Veränderung der Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehung. Viele US-Arbeitgeber wollen Mitarbeiter, deren Jobs sie wie den neuesten Netflix-Film an- und abschalten können. Zunehmend stützen sich Unternehmen auf nicht festangestellte Mitarbeiter, Freiberufler, Leih- und Zeitarbeiter sowie Teilzeitbeschäftigte.
Unternehmen, die keine Festangestellten einsetzen, sparen Arbeits- bzw. Personalkosten von bis zu 30 Prozent ein, weil sie keine Krankenversicherung oder sonstigen Sozialleistungen zahlen. Zudem kann das Beschäftigungsverhältnis von Freiberuflern problemlos beendet werden. Diese Arbeitsplätze haben in den USA während des konjunkturellen Aufschwungs mit einem Fünftel zum Beschäftigungswachstum beigetragen.
Nun kommt aus dem Silicon Valley ein neuer Wirtschaftstrend: die „Sharing Economy“ mit Unternehmen wie Uber, Airbnb und Upwork, die den Arbeitnehmern vermeintlich „neue Freiheiten bieten“ und sie zu „selbstständigen Unternehmern und Chefs“ machen. In Wirklichkeit geben sich die Freiberufler her für zunehmend kleinteilige Teilzeitjobs ohne Absicherung oder Sicherheit (sogenannte „gigs“).
In dieser neuen „Gig-Economy“ arbeiten viele Selbstständige und Leiharbeiter am selben Tag für mehrere Arbeitgeber. Die Arbeitssuchenden verbringen viel (unbezahlte) Zeit damit, den nächsten Job zu finden. Bei einem regulären Arbeitsplatz wird der Arbeitnehmer nach Zeit für eine vereinbarte Stundenzahl pro Tag bezahlt. Ruhepausen, Personalsitzungen, Schulungszeiten, sogar die Zeit am Trinkwasserautomaten mit Kollegen werden bei einem regulären Job vergütet.
Aus Millionen von Arbeitnehmern werden Tagelöhner
Die „Gig-Economy” durchbricht dieses Prinzip. Sie reduziert den Wert der Arbeit auf genau die Minuten, in denen jemand einen Bericht schreibt, ein Logo entwirft oder das Haus eines Dritten putzt. Das ist so, als wenn ein Fußballstar nur für ein geschossenes Tor oder ein Koch nur pro zubereitetes Gericht bezahlt wird. Es gibt keinen Jahreslohn und keine Vergütung für Recherchen oder Schulungen. Das ist Akkordarbeit – wie im 19. Jahrhundert.
Zahlreiche Chefs digital tätiger Unternehmen sind von dieser Hypereffizienz begeistert. Die Frage ist: effizient für wen? Wie soll Effizienz in einer modernen Volkswirtschaft definiert werden? Ist nicht Vollbeschäftigung mit angemessener Bezahlung und sicheren Arbeitsplätzen das, was wir „effizient“ nennen sollten?
Keine Sorge! Während viele Arbeitnehmer unterbeschäftigt und unterbezahlt sind, kann jeder Extrageld verdienen, indem die eigenen „Vermögenswerte zu Geld gemacht werden”: Vermieten Sie doch Ihr Haus über Airbnb, Ihr Auto über Uber oder Ihren Ersatzbohrer oder andere persönliche Besitztümer über andere Webseiten.
Hinzu kommt der „Holzhammer” der Automatisierung, der Robotik und der künstlichen Intelligenz; diese Techniken haben bereits Millionen von Arbeitsplätzen ersetzt. Der Trend auf dem Arbeitsmarkt ist eher ernüchternd. So stellt sich die neue digitale Wirtschaft in all ihrer Herrlichkeit dar: beauftragt, aber selbstständig, roboterisiert, Uber-isiert.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Die digitale Wirtschaft und ihre Innovationen haben sicherlich Potenzial – aber nur, wenn sie angemessen gesteuert wird. Sonst wirken sich diese Dienste verheerend auf die Mittelschicht aus und machen Millionen von Arbeitnehmern zu Tagelöhnern.
Viele der Deutschen, mit denen ich gesprochen habe, meinen, das könnte in Europas führender Volkswirtschaft nicht passieren. Jedoch hat es in Deutschland bereits einen signifikanten Anstieg von prekären Arbeitsverhältnissen gegeben. Etwa vier Prozent der Deutschen arbeiten als sogenannte „Solo-Selbstständige” – mit niedrigem Einkommen und wenigen Sicherheiten. Diese prekären Arbeitsverhältnisse sind nicht von der Künstlersozialkasse, der sozialen Absicherung für Künstler und Musiker, gedeckt. Kann es sein, dass diese Berufstätigen oft Einwanderer sind, die billige Arbeit verrichten, wie Hauskrankenpfleger, Putzpersonal, Fahrer und Hausmeister?
Nun kommen immer mehr Einwanderer nach Deutschland, die bereit sind, niedrigere Arbeiten anzunehmen – sie bilden eine zusätzliche Beschäftigtenreserve. Richtig: Viele deutsche Arbeiter verfügen über „mittlere Fähigkeiten”. In den nächsten zehn bis zwanzig Jahren werden Automatisierung und Robotertechnik aber die Arbeit gerade dieser Menschen am härtesten treffen.
Vor kurzem ist das Portal listminut.be in Belgien online gegangen, eine Arbeitsvermittlung, über die Leute mit Geld Menschen ohne Geld für wenig qualifizierte Arbeit anheuern können; die Arbeitssuchenden bieten ihre Arbeitskraft zum Niedrigstgebot an. Upwork verfügt über zehn Millionen Selbstständige aus aller Welt, die um Jobs kämpfen und sich dabei gegenseitig unterbieten.
Der Wohlstand in Europa beruht auf einem bestimmten Grad an Solidarität und der Mitbestimmung der wirtschaftlich beteiligten Akteure. Diese neuen Arbeitsweisen tendieren dazu, starke soziale Komponenten auf dem Arbeitsmarkt zu untergraben. Die gegenwärtigen Unterschiede zwischen den Volkswirtschaften der USA, Deutschlands und anderer europäischer Staaten könnten sich als temporäre Ausprägungen erweisen, da der Druck durch den Weltmarktwettbewerb dazu führt, dass sich mit der Zeit die nationalen Volkswirtschaften einander angleichen.
Deutschland soll handeln und Vorbild sein
Allerdings fällt es Deutschland leichter, seinen Sozialkapitalismus zu bewahren. Im Vergleich zu den USA ist das deutsche Sozialsystem stärker entwickelt, es gibt mächtigere Gewerkschaften und eine klarer sichtbare staatliche Steuerung. Deutschland könnte führend sein, wenn es darum geht, sicherzustellen, dass eine zunehmend technologisierte Wirtschaft nicht die Schere zwischen „Habenden“ und „Besitzlosen“ weiter auseinanderklaffen lässt.
Deutschland sollte handeln und ungeachtet des Berufs oder der Branche eine Basis für alle Berufstätigen schaffen, indem es ein „universelles und tragfähiges Sicherheitsnetz“ spannt, durch das jeder Arbeitende abgesichert ist, der sich von Job zu Job hangelt. Jeder Arbeitnehmer bekäme ein individuelles Sicherheitskonto, und jedes Unternehmen, das diesen Arbeitnehmer beschäftigt, würde einen kleinen „Sicherheitsbeitrag“ im Verhältnis zur Zahl der geleisteten Arbeitsstunden zahlen. So könnte ein Arbeitnehmer-Sicherheitsnetz finanziert werden.
Solche innovativen Strategien würden es Deutschland erlauben, als Vorbild zu wirken und sicherzustellen, dass High Tech und Innovationen für jeden und nicht nur für einige wenige eine Bereicherung darstellen. Die USA haben dagegen offensichtlich große Mühe, hier ihren Weg zu finden – das ist jedem klar, der den Reden der Präsidentschaftskandidaten zuhört.