Exklusive Langzeitstudie Wo und wie die Deutschen während Corona gearbeitet haben – erklärt in fünf Grafiken

Die Arbeitswelt hat sich durch Corona enorm verändert. Das hat Auswirkungen auf Zufriedenheit und Stresslevel der Beschäftigten.
Düsseldorf Hannes Zacher nennt es „Forscherglück“. Im Dezember 2019 begannen der Arbeitspsychologe der Universität Leipzig und sein US-Kollege Cort Rudolph eine auf ein Jahr angelegte Studie zu Arbeit und Gesundheit. Nur wenige Wochen später breitete sich das Coronavirus aus – und die Arbeitswelt wurde so stark umgewälzt, wie es zuletzt mit der Erfindung des PCs der Fall war.
Über 1000 Erwerbstätige haben an den 21 monatlichen Befragungswellen von Zacher und Rudolph teilgenommen. Die repräsentative Erhebung gibt Einblicke, wo die Deutschen vor und während der Pandemie gearbeitet haben – und wie sich Arbeitszufriedenheit und Stresslevel zwischen Lockdown und Lockerungen verändert haben.
Zacher kennt keine andere Analyse, die die Auswirkungen der Pandemie auf die Arbeitswelt und das Befinden der Beschäftigten über einen solch langen Zeitraum betrachtet hat.
Dem Handelsblatt liegen die Ergebnisse exklusiv vor. Das sind die fünf Haupterkenntnisse:
Erkenntnis 1: Homeoffice – von der Ausnahme zur Regel
Es ist noch nicht so lange her, da war Heimarbeit aus Sicht vieler Manager etwas für Angestellte, die zu Hause faulenzen wollten. Doch was jahrzehntelang unmöglich schien, wurde durch Corona binnen Tagen zur flächendeckend erzwungenen Realität. So verbrachten Deutschlands Beschäftigte laut der Leipziger Langzeitstudie kurz vor Ausbruch der Pandemie nur fünf Prozent ihrer Arbeitszeit im Homeoffice. Während beider Lockdowns stieg die Zahl auf über 25 Prozent an.
Doch nicht jeder, der von zu Hause aus arbeiten durfte, tat das auch: Im ersten Lockdown gaben 45 Prozent an, dass ihr Arbeitgeber Heimarbeit grundsätzlich ermöglicht. Diese Zahl ist mittlerweile auf 38 Prozent zurückgegangen – einige Firmen forcieren offenbar die Rückkehr in die alte Arbeitswelt.
Insgesamt hat sich mobiles Arbeit aber ausgeweitet: Durch die Lockerungen im Sommer 2020 verbrachten die Deutschen 15 Prozent ihrer Arbeitszeit zu Hause. In diesem Jahr sind es mit über 20 Prozent schon deutlich mehr. Das bestätigen auch Befragungen des Handelsblatts: Die deutschen Großkonzerne sind mit der Öffnung ihrer Büros weiter zurückhaltend.
Die Zufriedenheit mit dem Homeoffice habe sich über die Monate hinweg kaum verändert, sagt Zacher. Unterschiede gebe es zwischen den Erwerbstätigen: „Für Alleinerziehende und Eltern mit kleinen Kindern war die Heimarbeit wegen des Homeschoolings besonders belastend.“
Knapp 40 Prozent haben ein eigenes Arbeitszimmer. Dieser Anteil hat sich trotz monatelanger Heimarbeit kaum erhöht. 75 Prozent haben zu Hause zumindest einen festen Platz zum Arbeiten – egal ob auf der Couch oder am Küchentisch.
Erkenntnis 2: Arbeitsleistung – Produktivität im Homeoffice nimmt ab
Sind Beschäftigte im Homeoffice produktiver? Es gibt Studien, die diese Frage in die eine oder die andere Richtung beantworten. Zacher und Rudolph haben festgestellt: Gerade Beschäftigte, deren Arbeitsbedingungen sich stark verändert haben – die also etwa vom Büro ins Homeoffice gewechselt sind –, schätzen ihre Arbeitsleistung deutlich geringer ein. Sie sank im ersten Lockdown auf einer Skala zwischen eins und sieben im Schnitt von 5,9 auf 5,6.
Diese Zahlen mögen zunächst nach einer kleinen Veränderung aussehen. „Tatsächlich sind solche Bewegungen im Durchschnitt durchaus bedeutsam“, sagt Zacher. Wenn man die Verläufe individueller Personen betrachtet, gibt es deutlich mehr Ausschläge: Bei dem einen geht es durch die Pandemie steil bergab, bei der anderen bergauf – im Mittel gleichen sich die Zahlen etwas an. „Eine durchschnittliche Veränderung von 0,1 auf der Skala ist schon eine statistisch signifikante Veränderung, also nicht auf Zufall zurückzuführen.“
Bei Beschäftigten, bei denen sich nicht so viel verändert hat, wie etwa Produktionsmitarbeiter, die sich lediglich an neue Hygienebestimmungen gewöhnen mussten, brach die selbst wahrgenommene Arbeitsleistung zwar auch ein, aber nicht derart stark wie bei ihren Kollegen, die ins Homeoffice gewechselt sind.
Im zweiten Lockdown ist die wahrgenommene Arbeitsleistung ähnlich zurückgegangen, wenn auch in abgeschwächter Form. „Menschen sind in der Lage, sich relativ schnell an neue Anforderungen anzupassen“, erklärt Zacher. Auffällig: Mit den Lockerungen und der womöglich höheren Büropräsenz stieg die Produktivität wieder an.
Insgesamt bleibt die Arbeitsleistung von Deutschlands Beschäftigten im Mittel aber weiter unter dem Vor-Corona-Niveau (5,6 statt 5,9).
Beschäftigte, die von ihren Fähigkeiten überzeugt sind, erholen sich laut Zacher viel schneller von solchen Veränderungen und rufen sogar wieder ihre früheren Arbeitsleistungen ab. Fachleute bezeichnen das Phänomen als Resilienz oder Widerstandsfähigkeit. „Die Leistung von Beschäftigten, die nicht an sich selbst glauben, sind stärker in den Keller gegangen“, so Zacher.
Erkenntnis 3: Arbeitszufriedenheit – Manager hatten die Sorge abzusteigen
Mit der Ausbreitung des Virus ging auch die Glückskurve von Fach- und Führungskräften nach unten. Die Arbeitszufriedenheit sank während beider Lockdowns und stieg in den Sommermonaten 2020 und 2021 wieder an.
Im Moment scheinen sich die Beschäftigten erholt zu haben – das Zufriedenheitslevel liegt auf Vor-Corona-Niveau.
„Die Zeit heilt die Wunden“, sagt Arbeitspsychologe Zacher. Was im beruflichen Kontext gilt, ist auch bei privaten Tiefschlägen wie Todesfällen zu beobachten: Menschen kehren in der Regel nach einiger Zeit wieder auf ihr ursprüngliches Glücksniveau zurück.
Typischerweise sind Führungskräfte zufriedener als ihre Angestellten, das zeigt auch die Leipziger Langzeitstudie. Doch gerade Manager haben während der Pandemie stärker um ihren Abstieg gefürchtet, weiß Zacher aus den Befragungen. „Menschen mit hohem beruflichen Status hatten Sorge, dass sie ihre Macht verlieren, weil sie etwa befürchteten, ihr Team aus dem Homeoffice nicht führen zu können.“
Viele Angestellte waren im Dezember 2020 besonders unzufrieden – ihr Glückslevel sank auf einer Skala zwischen eins und sieben im Schnitt von fünf auf 4,7. Zacher erklärt sich das mit Erschöpfungseffekten, die Beschäftigte offenbar stärker getroffen haben als ihre Vorgesetzten.
Erkenntnis 4: Unterstützung vom Chef – vor allem im ersten Lockdown
Gerade für Führungskräfte sind die Umstellungen durch Corona besonders herausfordernd: Sie mussten ihr Team virtuell führen und Probleme aus der Ferne lösen. Viele Beschäftigte, die ins Homeoffice gewechselt sind, haben den Eindruck: Gerade im ersten Lockdown waren ihre Chefs für sie da. Die wahrgenommene Unterstützung stieg auf einer Skala zwischen eins und sieben im Schnitt von 4,1 auf 4,5.
Interessant: Diejenigen, die mehr Zeit im Büro verbrachten, waren mit der Unterstützung ihrer Vorgesetzten weniger zufrieden. Zacher: „Viele Chefs hatten offenbar ein besonders wachsames Auge auf ihre Beschäftigten im Homeoffice.“
Doch die Fürsorge für die Heimarbeiter hat nach dem Ende der ersten Beschränkungen wieder rasant abgenommen: Die wahrgenommene Unterstützung sank auf 4,0. Das könnte damit zusammenhängen, dass sich viele Manager wieder mehr auf ihre fachlichen als auf ihre Führungsaufgaben konzentriert hätten, so Zacher.
Dabei habe die Art der Führung durchaus Auswirkungen auf die Gesundheit der Beschäftigten, erklärt der Arbeitspsychologe. „Mitarbeiter, die schlecht geführt wurden, sind tendenziell häufiger psychisch krank geworden und waren weniger engagiert.“ Führungskräften ist also angeraten, sich wieder stärker um das Wohl ihrer Beschäftigten zu kümmern. Derzeit liegt deren wahrgenommene Unterstützung unter Vor-Corona-Niveau.
Erkenntnis 5: Stress – Extrovertierte haben stärker gelitten
Ob der Wechsel ins Homeoffice oder die Sorge vor einer Infektion: Die Pandemie hat Deutschlands Beschäftigte gestresst. Im ersten Lockdown gaben die Befragten auf einer Skala von eins bis fünf ihr Stressempfinden im Schnitt mit 2,9 an. Im Sommer 2020 fielen die Zahlen auf 2,4, im Winter stiegen sie wieder auf 2,7 an.
Interessant: Beschäftigte, die sich eher als extrovertiert bezeichnen würden, haben unter der Pandemie stärker gelitten als ihre introvertierten Kollegen. „Videokonferenzen reichen für die Befriedigung der sozialen Bedürfnisse extrovertierter Menschen nicht aus“, sagt Zacher. Introvertierte Mitarbeiter hätten mit dem virtuellen Austausch ein geringeres Problem gehabt – sie hätten sich schon einst im Meetingraum nicht in den Vordergrund gedrängt.
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