Durch die schwierige Zeit des Entzugs half dem Manager neben seiner Frau Veronica Ferres, auch der Mediziner Florian Holsboer, der bis 2014 Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie war und Maschmeyer nach zwei gescheiterten Entzugsversuchen behandelte.
Heute verbindet Holsboer und Maschmeyer nicht nur eine freundschaftliche, sondern auch eine geschäftliche Beziehung. 2010 gründeten die beiden HMNC Brain Health. Die Firma entwickelt Therapieverfahren gegen Depression und Angsterkrankungen. Zu ihrem ersten Doppelinterview als Arzt und Patient kommen die beiden gerade aus einer Aufsichtsratssitzung.
Herr Maschmeyer, Sie waren jahrelang tablettenabhängig und haben das erst vor wenigen Tagen öffentlich gemacht. Wie geht es Ihnen damit?
Carsten Maschmeyer: Gut, und auch etwas befreit. Auch wenn ich zugeben muss, dass ich letztes Wochenende schon sehr nervös war. Ich hatte Sonntagabend eine Mail an einen Kreis von etwa 180 Menschen geschickt, mit denen ich zusammenarbeite und denen ich vertraue. Gründerinnen und Gründer, Investoren, und natürlich Freunde. Da kam direkt eine Riesen-Resonanzwelle zurück, die sehr positiv war. Das hat mich bestärkt, dass es richtig war, mit meiner Geschichte rauszugehen.
Wann haben Sie sich zu dem Schritt entschlossen?
Maschmeyer: Das kam, als ich mein Leben reflektierte für Ideen an meinem Buch. Der Untertitel lautet: So verändern Sie Ihr Leben. Ich selbst habe mich nach Tiefschlägen immer am stärksten verändert. Und mein absoluter Tiefpunkt war die Tablettensucht. So habe ich im März den Entschluss gefasst, auch darüber zu schreiben, um für den Leser auch nahbarer und ein Mensch zu sein, der eben auch schwere Phasen hatte.
Vita Maschmeyer und Holsboer
Was erhoffen Sie sich davon?
Maschmeyer: Zwei Dinge. In meinem Buch gebe ich einerseits Tipps, um gar nicht erst in einen Burn-out zu geraten. Wer aber schon im Burn-out oder der Depression ist, dem will ich Mut mit meiner Geschichte machen, sich gegenüber der Familie zu öffnen und echte professionelle Hilfe zu suchen, so wie ich sie von Professor Holsboer bekam.
Florian Holsboer: Psychische Erkrankungen belasten Betroffene doppelt. Da ist einmal die Krankheit selbst, aber auch das gesellschaftliche Stigma. Der Schritt von Herrn Maschmeyer kann helfen, da gegenzusteuern. Von daher fand ich es sehr mutig, und ich danke Herrn Maschmeyer, dass er diesen Schritt gewagt hat. Das Schlimmste ist, keine professionelle Hilfe in so einer Situation zu suchen.
Auf Social Media haben Sie viele Respektbekundungen erhalten, Herr Maschmeyer. Einige haben aber auch gesagt: „Der will doch nur sein Buch verkaufen.“ Was macht das mit Ihnen?
Maschmeyer: Ich habe im Business gelernt: Die Mehrheit hat meistens recht. Und die überragende Mehrheit bedankt sich für meine Offenheit und sieht das als enorm mutigen Schritt meinerseits, der anderen helfen kann.
Wann begann Ihre Sucht?
Maschmeyer: Die erste halbe Tablette habe ich im Herbst 2003 verschrieben bekommen. Damals stand ich wahnsinnig unter Druck. Ich hatte 18-Stunden-Tage, war Gründer, CEO und Hauptaktionär bei AWD, heute Swiss Life Select. Das war schon ein recht forderndes Programm.
In der Zeit ging auch Ihr Privatleben in die Brüche.
Maschmeyer: Ja, meine Exfrau ist ausgezogen mit den Kindern. Ich kam dann um zwölf Uhr nachts oder halb eins nach Hause – und konnte trotz Erschöpfung nicht schlafen. Da hat mir mein Hausarzt – gut gemeint, aber schlecht gemacht – eine Packung Schlaftabletten gegeben und gesagt: „Hier nimm abends davon eine halbe, dann schläfst du super.“
Wie wurden Sie abhängig?
Maschmeyer: Schleichend. Nach wenigen Wochen dachte ich: Ich nehme wieder mal eine halbe und am nächsten Tag wieder eine halbe. Nach einem Jahr brauchte ich schon eine ganze Tablette, um die gleiche Wirkung zu erzielen. Zwei Jahre später waren es zwei. Um diese Zeit irgendwo begann wohl bereits die Gewöhnung, aus der die Sucht entstand
Wie haben Sie Herrn Maschmeyer als Mediziner wahrgenommen, Herr Holsboer?
Holsboer: Ich habe Herrn Maschmeyer ja erst deutlich später kennengelernt; Anfang 2010, nachdem mich seine Frau Veronica kontaktiert hatte. Da hatte er schon erste neurologische Symptome.
Wie zeigten die sich?
Holsboer: Er schwankte leicht beim Gehen, musste sich beim Treppensteigen festhalten. Für einen sportlichen großen Mann seines Alters ist das eher ungewöhnlich. Das alles waren kleine, aber eindeutige neurologische Zeichen für mich, dass er mehr eingenommen hatte, als er mir anvertraut hat.
Am Ende waren es 50 Tabletten am Tag. Wie kamen Sie an so viele Pillen, Herr Maschmeyer?
Maschmeyer: Ich habe irgendwann begonnen, meine verschiedenen Quellen auszutricksen. Da war einmal mein Hausarzt, der mir die Tabletten verschrieb. Dem habe ich nicht gesagt, dass ich in der Apotheke auch so welche bekam, weil ich den Apotheker schon lange kannte. Als die Psychologin merkte, wie schwer ich mit der Trennung von den Kindern zurechtkomme, habe ich auch sie gefragt: „Können Sie mir nicht was verschreiben?“ So hatte ich meine Quellen, die nichts voneinander wussten. Die Sucht hatte leider zu der Menge geführt.
Im Buch schreiben Sie, dass Sie an Depression litten.
Maschmeyer: Ich hatte einen Burn-out, war depressiv und konnte nicht mehr schlafen.
Holsboer: Durch die Trennung und den beruflichen Druck war Herr Maschmeyer in einer massiven Belastungssituation, die eine Depression auslöste. Das Hauptsymptom war die Schlafstörung. Das Problem ist: Man kann eine Depression nicht mit Schlafmitteln bekämpfen.
Maschmeyer: Ich hab die Symptome bekämpft, aber nicht die Ursache. Mein Vorwurf an die Pharmabranche ist, dass man diese Tabletten „Schlafmittel“ nennt. Das ist kein Schlafmittel. Das ist ein Narkotikum. Das bekommt man, wenn einem das Knie operiert wird oder die Hand, aber bitte niemals zur Schlafförderung.
Das Mittel, das Sie genommen haben, hieß Stilnox.
Maschmeyer: Ja, du bist still, und es knockt dich aus. Leider passt zumindest der Name.
Die Nebenwirkungen sind erheblich. Machen Sie sich keine Sorgen um Langzeitschäden?
Holsboer: Wenn man wieder zurück auf das alte Leistungsniveau kommt, ist das ein gutes Zeichen, dass man keine Langzeitfolgen davonträgt. Und wenn ich Herrn Maschmeyer so erlebe, muss man sagen: Er hat seine volle Leistungskraft zurückgewonnen.
Damals waren Sie Chef von AWD und haben die Firma in der Zeit Ihrer Sucht verkauft. Haben Sie im Rausch auch falsche Geschäftsentscheidungen getroffen?
Maschmeyer: Nein. Das muss man zeitlich einordnen. Der Verkauf von AWD fand im Dezember 2007 statt. Das erste Mal tagsüber habe ich eine Schlaftablette im Winter 2008/2009 genommen. Da begann dann die Sucht.
Aber man ist doch trotzdem in seinen Sinnen eingeschränkt, wenn man regelmäßig Tabletten nimmt. Egal zu welcher Uhrzeit.
Maschmeyer: Ich habe mit den Tabletten als Einschlafhilfe begonnen. Ich hatte zu Beginn nur abends die Tabletten genommen und durch die nachlassende Wirkung leider die Dosierung erhöht. Mag sein, dass ich vielleicht mal bei der einen oder anderen Sitzung morgens noch etwas müde war. Aber ich hätte niemals gewollt, dass sich jemand am Tisch fragt: „Was macht der Maschmeyer da?“
Das klingt so, als ob Sie Ihre Sucht regulieren konnten. Das geht de facto nicht.
Maschmeyer: Ich habe niemals während meiner AWD-Zeit tagsüber Tabletten genommen. Ich bin mir meiner Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern und den Aktionären immer voll bewusst gewesen. Ich wollte unbedingt, dass es der Firma gut geht. Und klar, auch meinem Aktienpaket.
Der Verkauf von AWD an Swiss Life war ein 1,2-Milliarden-Euro-Deal. Da hat man schon ohne Tabletten schwitzige Hände. Hatten Sie nie Angst, Ihnen entgleitet da was?
Maschmeyer: Ich merkte, dass ich das enorme Pensum nicht auf Dauer schaffen würde. Als dann die Offerten kamen, stieg bei mir tatsächlich die Aussicht auf weniger Stress, kein Börsendruck mehr. Das war ein verlockender Gedanke.
Aber?
Maschmeyer: Der Schein trog: Kurze Zeit nach dem Verkauf machte sich eine unheimliche Leere breit. Ohne die Arbeit fehlte mir mein vorheriger Haupt-Lebensinhalt: das Höher, Weiter, Schneller. Kurz danach ging die akute Sucht los, ich brauchte immer mehr Tabletten. Kurz vor dem Entzug habe ich mich nur noch zwischen Schlafzimmer und Küche bewegt.
Auch die umstrittenen Cum-Ex-Geschäfte fallen in die Zeit. Im Untersuchungsausschuss des Bundestags sagten Sie, dass der Ex-Topbanker Eric Sarasin 2010 mit einem Angebot auf Sie zukam.
Maschmeyer: Ich möchte das konkret klarstellen: Ich habe nie ein Cum-Ex-Geschäft wissentlich getätigt. Die Bank Safra Sarasin hat Gelder aus einem Aktiendividendenfonds, in dem wir investiert waren, zweckentfremdet angelegt. Aufgrund meiner Anzeige wurde die Bank durchsucht, und Eric Sarasin musste zurücktreten. Wir sind von der Bank für unsere Verluste entschädigt worden. Sie haben sich entschuldigt und Schadensersatzzahlungen geleistet. Ich würde Sie deshalb bitten, keine Zusammenhänge zu konstruieren zwischen der Täuschung durch die Bank und meiner damaligen Erkrankung.
Gab es trotzdem Momente, in denen Sie gemerkt haben, ich habe die Kontrolle verloren?
Maschmeyer: Zum Glück kamen diese Momente erst, nachdem ich die Firma verkauft hatte und Privatier war. Jeder Suchtkranke kommt irgendwann an einen Punkt, wo er anfängt, die Eigenkontrolle zu verlieren. Bei mir war das, als ich merkte, dass fünf Tabletten nicht mehr wirken und auch acht Tabletten nicht mehr. Da war mir klar, das endet nicht mit einem Happy End.
Wie hat Ihre Frau Veronica Ferres reagiert?
Maschmeyer: Das war tatsächlich das Prägendste. Sie hatte mich auf meinem Tiefpunkt gefragt: Liebst du mich nicht mehr? Willst du dich umbringen? Was soll das? Das war aus Liebe eine Mischung aus Vorwürfen, Angst und Sorge. Das hat mir selbst in dem Zustand, in dem ich war, die Augen geöffnet.
Ihre Frau hat sich auch an Professor Holsboer gewandt.
Maschmeyer: Ja, Veronica hatte den Kontakt über Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt, den langjährigen Mannschaftsarzt vom FC Bayern und der Nationalmannschaft, erhalten.
Holsboer: Ich wusste anfangs noch nicht, um wen es geht. Als ich Carsten Maschmeyer dann kennengelernt habe, machte ich ihm Mut, war aber auch streng zu ihm. Ich habe ihm klargemacht, so halbe Entzugssachen mit am Wochenende zu Hause möglicherweise weiter Tabletten nehmen – das geht bei mir nicht. Aber ich habe schnell gemerkt, dass es ihm ernst war.
Maschmeyer: Und dir auch. Du warst bis auf einen Tag jeden Tag bei mir. Acht Wochen lang. Auch Samstag und Sonntag.
Den Entzug haben Sie in Ihrem Post auf LinkedIn Ihre persönliche Hölle genannt. Können Sie uns diese Hölle beschreiben?
Maschmeyer: Ich habe während des klinischen Entzugs öfter Fäden gesehen. Das war wie ein Vorhang, den ich wegschieben wollte. Da war aber nichts. Das waren Entzugserscheinungen, genauso wie das Schwitzen und Zittern.
Wie lief der Entzug ab?
Maschmeyer: In der Therapie wird die Dosierung nach und nach ausgeschlichen, damit die Patienten langsam von den Tabletten komplett runterkommen. Wenn ich zum Beispiel morgens um 8 Uhr meine Vormittagsration bekommen hatte, ging es schon um 9 Uhr los, dass ich in meinem Zimmer unruhig auf- und ablief, wie in einer Gefängniszelle. Dann ging das zeitliche Rechnen los, wann es die nächste Tablette gibt. Es fing an zu ziehen, zu zucken, ich zitterte, ich war nicht mehr in der Lage, ein Buch zu lesen, einen Film zu gucken. Ich weiß noch, dass damals Fußball-WM war. Ich habe fast alle Spiele geschaut, um mich irgendwie abzulenken.
Sind Sie in der Therapie rückfällig geworden?
Maschmeyer: Eine Situation weiß ich noch, das war am zweiten oder dritten Tag. Da bekam ich meine Tablettenration für den Abend. Statt der vorgesehenen zehn Tabletten bekam ich doppelt so viele. Ich habe kurz überlegt, was machst du mit dieser Reserve? Füllst du auf?
Und haben Sie?
Maschmeyer: Nein. Als das nächste Mal ein Arzt vorbeikam, habe ich ihn angestupst und gesagt: „Hier ist etwas schiefgelaufen. Ich habe zu viele Tabletten bekommen.“ Ich weiß bis heute nicht, ob sie mich testen wollten, aber das hat mir Mut gegeben zu erkennen, dass meine Willenskraft, die Sucht zu besiegen, zurückgekommen war.
War es ein Test, Herr Holsboer?
Holsboer: Nein, war es nicht. Manchmal vertut sich in Krankenhäusern das Personal. Aber das zeigt die Entschlusskraft von Herrn Maschmeyer. Als ich davon gehört habe, dass er die Tabletten freiwillig zurückgegeben hat, habe ich sofort gesagt: Das war richtig gut, zeigte es doch, dass er auf dem richtigen Weg war.
Sie zwei sind nicht nur Arzt und Patient, sondern heute auch Freunde und Geschäftspartner. Ihr Unternehmen HMNC Brain Health will innovative Psychopharmaka entwickeln. Wie?
Holsboer: Bei einer Depression weiß man nicht, welcher Mechanismus im Gehirn des individuellen Patienten die Krankheit hervorgerufen hat. Mit Labortests, sogenannten Biomarkern, lässt sich feststellen, welcher Krankheitsmechanismus vorliegt, und kann dann mit spezifischen Medikamenten gezielt behandeln. HMNC entwickelt solche Medikamente, die mithilfe der Biomarker präziser eingesetzt werden können. Damit werden schneller bessere klinische Ergebnisse erzielt als mit heute gebräuchlichen Medikamenten.
Wie weit sind Sie da?
Holsboer: Wir haben momentan drei Medikamentenprojekte. Zwei davon sind schon in der klinischen Entwicklung. Ein weiteres wird nächstes Jahr in diese Phase gehen.
Die letzten offiziellen Geschäftszahlen sind von 2018. Da steht noch ein Fehlbetrag von einer halben Million Euro. Haben Sie inzwischen den Break-even erreicht?
Maschmeyer: Bei Biotech-Firmen wird in den ersten Jahren nur investiert. Sehen Sie sich Curevac oder auch Biontech an, bevor sie ihren Covid-Impfstoff hatten. Wenn das erste Medikament fertig ist, werden wir entscheiden, ob wir das mit einem Pharmariesen zusammen auf den Markt bringen oder ob wir es komplett verkaufen.
Das erfordert viel Forschung – und die ist teuer. Wollen Sie an die Börse? Man hört immer wieder, dass Sie in so eine Richtung planen.
Maschmeyer: Hören kann man viel.
Ihr CEO Benedikt von Braunmühl hat zuletzt das schwedische Gesundheitsunternehmen Medicover an die Nasdaq gebracht. Die Frage liegt also durchaus nahe.
Maschmeyer: Haben Sie dafür Verständnis, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt dazu noch nichts sagen können. Schon gar nicht als Aufsichtsräte. Das muss zu gegebener Zeit das operative Management tun.
In den USA boomen Start-ups aus dem Bereich mentale Gesundheit. Aktuell gibt es sieben Unternehmen, die mit mehr als einer Milliarde US-Dollar bewertet werden. Vor einem Jahr waren es noch zwei. Schlagen Sie am Ende doch Kapital aus Ihrer Erfahrung, Herr Maschmeyer?
Maschmeyer: Nein, ich hab ehrlich gesagt vor allem wegen meiner Frau investiert (lacht). Spaß beiseite: Ich möchte, dass Menschen, die so etwas durchgemacht haben wie ich, geholfen wird. Hier sind Patienten- und Investoreninteressen also im Einklang. Beide hoffen auf den Erfolg.
Und wenn es doch nichts wird?
Maschmeyer: Dann haben wir trotzdem die Forschung voran- und der Lösung nähergebracht.
Herr Maschmeyer, Herr Professor Holsboer, vielen Dank für das Interview.
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.