Mitarbeiterbindung Der geplatzte Google-Traum: Warum es wichtig ist, seinen Job nicht bedingungslos zu lieben

Junge Mitarbeiter des Internetkonzerns auf dem Weg zur Arbeit. Google lockt Talente aus aller Welt mit Wohlfühlpaket und Wirgefühl.
Düsseldorf Für Emi Nietfeld war Google fünf Jahre lang ihre Ersatzfamilie. Am Arbeitsplatz fühlte sie sich wie zu Hause, ihr Chef war für sie wie ein Vater. Der Internetriese tat viel, damit sich die Ingenieurin wohlfühlte: Kostenloses Essen auf dem Campus, ein Fitnesscenter, dazu viel Zeit mit den Kollegen – auch am Wochenende. Die junge Frau genoss die Gemeinschaft und das Prestige.
Dass ein Mitarbeiter sie verbal belästigte, verdrängte Nietfeld. Erst als er ihr Vorgesetzter werden soll, wendete sie sich an die Personalabteilung. Dann erlebte Nietfeld erstmals, dass sich die vermeintliche Familie nicht wirklich um sie kümmerte. Als sie Google sagte, dass sie ein anderes Jobangebot habe, fiel Googles Gegenangebot demonstrativ niedrig aus. Inzwischen arbeitet Nietfeld für Facebook. Ihre Erfahrungen hat die Ingenieurin in einem „New York Times“-Essay geschildert. Der Titel? „Seit ich bei Google gearbeitet habe, werde ich mir nie wieder erlauben, einen Job zu lieben“.
Doch wie viel emotionale Bindung an den Arbeitgeber ist tatsächlich gut? Und wie merkt man, dass das Verhältnis schlechter wird? Michael Kastner, Leiter des Instituts für Arbeitspsychologie und -medizin in Herdecke, rät Berufstätigen „zu einer gesunden Distanz zu ihrem Arbeitgeber“. Ansonsten drohe der sogenannte Spill-over-Effekt: Kummer oder Frust aus dem Job schwappt zu stark ins Privatleben und umgekehrt. „Das ist nicht gut, weil es dann keinen Ort des Rückzugs und des Abschaltens mehr gibt“, gibt Kastner zu bedenken.
Der Trend zum Homeoffice beflügele dieses Gesundheitsrisiko derzeit. Am besten also, rät der Institutsleiter, „Abstand halten, die eigene Intimsphäre wahren und zum Beispiel nicht mit Chefs und Kollegen in Urlaub fahren oder mit ihnen private Details besprechen wie Krankheiten oder den Beziehungsstatus.“
Produzentenstolz, Wertschätzung, Sinnhaftigkeit: Kommen diese drei Faktoren im Job zusammen, ist die Bindung an den Arbeitgeber besonders hoch, sagt der Experte. Sie lässt Mitarbeiter von Nobelautomarken klaglos Nacht- und Wochenend-Schichten schieben. Junge Ingenieure beflügelt es bei Techfirmen wie Google unermüdlich an Innovationen zu tüfteln. Und das Bewusstsein, für die Gesundheit der Mitmenschen verantwortlich zu sein, treibt viele Ärzte und Pfleger an, um wie in der aktuellen Coronakrise schier Unmenschliches zu leisten.
Bedürfnis nach Sicherheit und Gemeinschaft macht anfällig für Illusion
Wie hoch genau die Loyalität ausfällt, hänge stark von der jeweiligen Persönlichkeit eines Mitarbeiters ab. Kastner sagt: „Je unsicherer jemand ist, also je wichtiger die Anerkennung von anderen sowie das persönliche Sicherheits- und das Bedürfnis nach Gemeinschaft sind, umso anfälliger wird derjenige dafür, der Illusion ‚Firma gleich Familie‘ aufzusitzen.“
Keine Frage: Das Wirgefühl ist für Engagement und Motivation wichtig. Aber ab einem bestimmten Punkt kann es zum persönlichen Nachteil werden. Ex-Google-Managerin Nietfeld beschreibt das in ihrem Essay so: „Irgendwann fing die Außenwelt an, feindselig zu erscheinen. Google war der Garten Eden; ich lebte in der Angst, ausgestoßen zu werden.“ Sie zögerte lange, auf unhaltbare Zustände hinzuweisen, weil sie Sorge hatte, „in unserem intensiven Umfeld nicht als hart genug zu gelten“.
So erhöht der Wunsch nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft das Risiko, dass Kollegen lästige Arbeiten abwälzen oder jemanden sogar ungestraft belästigen. „Auch die Gefahr, in umstrittene Aktionen oder sogar illegale Handlungen involviert zu werden, steigt dadurch“, sagt Kastner mit Blick auf die Armee. Gerade werde offenkundig, wie der Drill auf Einheitlichkeit, ein übersteigertes Wirgefühl und Elitebewusstsein beim Kommando Spezialkräfte (KSK) der Bundeswehr etwa zu einem Skandal um entwendete Munition führen konnte.
Die US-Autorin Sarah Jaffe beleuchtet in ihrem aktuellen Buch „Work Won't Love You Back“, warum „das zu tun, was man liebt“ ein Rezept für Ausbeutung ist. Und warum das eine neue Tyrannei der Arbeit schafft, in der wir uns damit abfinden, Jobs zu machen, die unser Leben übernehmen. Jaffe konstatiert ein Muster: „Mitarbeiter werden dazu gedrängt, Opfer zu bringen für das Privileg, das tun zu können, was sie lieben.“ Das gelte unabhängig davon, ob es sich um ausgelaugte Praktikanten bei Investmentbanken, überarbeitetes Pflegepersonal oder sogar Profisportler handelt.
Wohlfühlpakete als Kalkül im Kampf gegen die Personalknappheit
Wirtschaftspsychologe Kastner rät daher, sich bewusst zu machen: „Wohlfühlpakete zu spendieren und Wirgefühl zu erzeugen entspringen keiner sozialromantischen Veranlagung der Konzernchefs. Sie sind vielmehr nüchternes Kalkül beim Kampf um die klügsten Köpfe in Zeiten von Personalknappheit, wie sie die Techszene zurzeit erlebt. Es rechnet sich.“
Der Experte empfiehlt, den eigenen Arbeitgeber zu hinterfragen: „Was hat er davon?“ Und sich selbst die Frage zu stellen: „Wie sehr brauche ich das Gefühl, dazuzugehören und für meine Leistung von anderen anerkannt zu werden?“ Denn daraus ergäben sich Folgen für die Unternehmenskultur: „Wer mitmacht, ist in, wer sich weigert, ist out. Widerstand leisten zu wollen kann anstrengend sein. Sich anzupassen ist so viel einfacher – birgt aber auch die Gefahr des bösen Erwachens.“
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