Psychische Gesundheit Langeweile im Job: Warum Bore-out in der Pandemie kein Luxusproblem, sondern brandgefährlich ist

Millionen deutsche Arbeitnehmer fühlen sich in ihrem Job unterfordert.
Düsseldorf Jonas Braun* verbringt die meiste Zeit seines Arbeitstages damit, im Internet zu surfen und Russisch zu lernen. Im Stundentakt marschiert er durchs Büro, verweilt ein wenig auf der Toilette und schlurft dann zurück an seinen Schreibtisch.
Dabei ist Braun kein Drückeberger, der sein Gehalt eher als Freizeitvergütung interpretiert. Das Problem bei Braun ist schlicht: Er hat nichts zu tun. Sein Job unterfordert ihn – sowohl vom reinen Pensum her als auch intellektuell.
Braun ist 29 Jahre alt und heuerte im Januar 2020 als Trainee bei einer Bank im Ruhrgebiet an. Eigentlich der ideale Karrierestart, dachte er damals. Doch mehr als die immer gleichen Excel-Tabellen und Abrechnungen bekommt er nicht zu Gesicht. „Meine tägliche Arbeit ist nach einer Stunde beendet“, klagt er. „Das permanente Nichtstun macht mich platt.“
Was Braun beschreibt, bezeichnet die Wissenschaft als Bore-out-Syndrom: dauernde Unterforderung, Langeweile und Lethargie im Job. Viele Betroffene versuchen, nach außen das Bild eines beschäftigten Angestellten zu wahren – und täuschen eine hohe Arbeitsbelastung vor.
Sie tun so, als ertränken sie in Arbeit, manche machen gar Überstunden – obwohl sie tatsächlich nur gelangweilt durchs Internet surfen und auf den Feierabend warten.
Was in Zeiten von Pandemiestress nach einem Luxusproblem klingt, ist in Wahrheit keines. Denn: Dauerhafte Unterforderung im Job kann zu psychischen Problemen führen. Im Extremfall entwickelt sich daraus eine Depression.
Unzufriedenheit im Job kostet die Wirtschaft jedes Jahr viel Geld. Laut der forschungsbasierten Unternehmensberatung Gallup beläuft sich der volkswirtschaftliche Schaden innerer Kündigungen auf fast 114 Milliarden Euro. Schätzungen von Schweizer Unternehmensberatern gehen noch weiter: Sie taxieren die wirtschaftlichen Folgekosten durch Bore-out in Deutschland gar auf 250 Milliarden Euro.
Tatsächlich ist Bore-out verbreiteter, als viele denken. 13 Prozent der rund 45 Millionen Erwerbstägigen fühlen sich fachlich unterfordert. Und immerhin fünf Prozent geben an, dass ihr Arbeitspensum zu niedrig sei. Das geht aus dem aktuellen Stressreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin hervor.
Allein im Homeoffice
Und Corona könnte das Problem noch weiter verschärfen. Das Homeoffice entzweit die Bürozunft: Während viele Arbeitnehmer seit dem Wechsel an die heimischen Schreib- und Küchentische länger und produktiver arbeiten, registrieren andere zunehmend steigende Unzufriedenheit, Unterforderung und fragen sich nach dem Sinn ihrer Tätigkeit. Zu den Ergebnissen kam eine Studie der TU Darmstadt im ersten Lockdown. Die Vermutung liegt nahe, dass sich das Phänomen in der mittlerweile dritten Corona-Welle nicht wesentlich verbessert hat.
Um die Infektionszahlen zu drücken, appelliert die Bundesregierung weiterhin an Arbeitgeber und Arbeitnehmer, wenn möglich von zu Hause aus zu arbeiten. Für Bore-out-Betroffene heißt das: Wer vor der Pandemie kaffeeschlürfend mit Kollegen vor der Unterbeschäftigung flüchtete, vegetiert heute allein im Homeoffice.
Trotzdem: Die Diskussion um psychische Erkrankungen im Job dreht sich vor allem um Burn-out – die Überforderung –, beklagt Stefan Duwensee. Der Hamburger Coach berät Betroffene und Unternehmen, wie – auch präventiv – mit beruflicher Unterforderung umzugehen ist. „Bore-out wird eher belächelt“, so Duwensee.
Dass Langeweile im Job auf Dauer an der Substanz kratzt, kann Jonas Braun bestätigen. Dabei träumte er nach seinem Studienabschluss in Wirtschaftswissenschaften noch von beruflichen Herausforderungen. Der Bankjob aber werde seinem Abschluss nicht gerecht, sagt er: „Ich komme mir vor, als absolvierte ich hier ein Schülerpraktikum – seit einem Jahr.“ Immerhin, scherzt Braun, müsse er keinen Kaffee kochen.
Vier Tipps gegen Bore-out
Mit seinen Führungskräften hat Braun bereits das Gespräch gesucht, bat um mehr Verantwortung und einen stärkeren Einbezug in andere Aufgaben. Doch zu mehr als einem „Das machen wir“ habe sich sein Chef bislang nicht bequemt. Mittlerweile macht Braun keinen Hehl mehr daraus, nichts zu tun zu haben.
Für Bore-out-Berater Duwensee zeugt der Umgang mit dem Thema in vielen Unternehmen von Potenzialverschwendung. „Ein müßiggehender Mitarbeiter bekommt kein Bore-out. Es trifft vor allem diejenigen, die eigentlich Leistung erbringen wollen“, erklärt er.
Letztlich habe jedes Unternehmen ein Eigeninteresse, Bore-out zu verhindern, sagt Duwensee. Diese Tipps des Experten helfen Betroffenen und Chefs:
Ehrlichkeit im Auswahlprozess: „Wir müssen Ihnen leider absagen, weil Sie für die ausgeschriebene Stelle überqualifiziert sind.“ Wenn dieser Satz in der Absage für eine Bewertung steht, deutet das nicht auf Konfliktscheue des Personalers hin. Oft sortiert der HR-Chef überqualifizierte Bewerber aus, weil diese direkt nach der Chefposition trachten oder sich eben schnell langweilen könnten.
Für Bore-out-Experte Duwensee ist es die beste Prävention von Unterforderung, wenn Mitarbeiter und Tätigkeit direkt zueinanderpassen. Diese Passung sollten Chef und Arbeitnehmer als Prozess begreifen und regelmäßig eruieren, ob die Aufgabe noch ausfüllend ist.
- Die Führungskraft als Coach: Eine gute Führungskraft geht auf die Bedürfnisse ihrer Teammitglieder ein, beobachtet Fortschritte und fördert Potenziale. Daher ist es laut Duwensee wichtig, dass Leute in Führungsposition kommen, die über empathische Fähigkeiten verfügen. Wenn eine Führungskraft nur das operative Geschäft im Sinn habe und die soziale Komponente vernachlässige, könne das Unterforderung begünstigen. Denn wenn der Chef über keine Menschenkenntnis verfüge und sich nicht für die Potenziale seiner Teammitglieder interessiere, liefen diese Gefahr, trotz höherer Kompetenz auf der immer gleichen Karrierestufe zu verharren.
- Konstantes Feedback hilft: „In Unternehmen wird zu wenig gesprochen“, kritisiert Duwensee. Probleme träten erst dann zutage, wenn es schon fast zu spät ist. Führungskräfte sollten daher regelmäßig Gespräche mit ihren Mitarbeitern führen und sich Zeit nehmen, über deren berufliche Ziele zu sprechen. Ein Jahresgespräch kann dafür ein geeigneter Anfang sein – sollte aber nicht die einzige Maßnahme bleiben. Schon 2019 schrieb das renommierte Massachusetts Institute of Technology: „Anstelle von jährlichen, vierteljährlichen oder spontanen Überprüfungen ermöglichen und fördern talentorientierte Unternehmen nahezu konstantes Feedback.“
Hilfe einholen: Bore-out-Betroffenen rät Duwensee, sich professionelle Hilfe bei Beratern zu holen oder – falls die Situation vielleicht schon seit Jahren unverändert ist – einen Psychotherapeuten aufzusuchen. „In vielen Fällen ist es nicht unbedingt nötig, die Firma zu verlassen“, sagt der Berater. „Oft reicht es, den Druck einmal loszuwerden und sich darüber klar zu werden, woran es beruflich fehlt.“
In einigen Fällen bleibt aber nur der Jobwechsel übrig. Für Betroffene ist das jedoch schwierig. Der berufliche Neustart birgt Unsicherheiten – gerade Arbeitnehmer mit familiären Verpflichtungen müssen hier gut planen.
Jonas Braun hat als Berufseinsteiger noch gute Chancen, aus der Bore-out-Falle zu entkommen. Ein Jahr dauert sein Traineeprogramm bei der Bank noch. Bleiben will er auf keinen Fall. Er hofft im Anschluss auf einen anspruchsvolleren Job. Immerhin kann er in seiner Bewerbung dann mit Russisch-Grundkenntnissen punkten.
*Name geändert
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In bestimmten Beschäftigungsgruppen hat man sicherlich damit kein Problem.