Sinn und Unsinn von Jahresgesprächen Kreuzchen für die Mitarbeiter

Mitarbeitergespräche sind ein Klassiker der Personalführung.
Düsseldorf In diesen ersten Wochen eines Jahres kommt in Unternehmen ein Klassiker zur Aufführung: „Das Jahresgespräch“ sagen Personalmanager bedeutungsvoll; „Viel Lärm um nichts“ lästern die Kollegen. Das Drehbuch des Zwei-Personen-Stücks: Der Chef trifft seinen Mitarbeiter, um über die Leistung des Untergebenen zu urteilen und zu prüfen, ob und zu welchem Grad er die im Vorjahr vereinbarten Ziele erreicht hat – und um neue festzulegen. Den Mitarbeiter interessiert beim Ausfüllen des oft seitenlangen Fragebogens vor allem, ob er seinen Gehaltsbonus erhält und wie hoch er ausfällt.
Armin Trost, Professor für Personalmanagement an der Hochschule Furtwangen: „Mitarbeiter und Führungskräfte erleben das Jahresgespräch als skurril und realitätsfremd, weil es von zentraler Stelle verordnet und vorstrukturiert ist.“ Nachdem es jahrzehntelang zum Standardrepertoire zählte, wird es nun immer öfter als absurdes Theater gesehen.
Die ersten Arbeitgeber reagieren. Die Beratungsfirma CEB hat ermittelt, dass etwa zwölf Prozent der amerikanischen Fortune-1000-Unternehmen die klassische Leistungsbeurteilung abgeschafft haben. Das Beratungshaus Accenture, die Computergiganten Microsoft und IBM, der Streaming-Dienst Netflix, der Medizinkonzern Medtronic sowie Textilhersteller GAP zählen zum Kreis der Aussteiger. Einige Arbeitgeber experimentieren mit neuen Ansätzen.
Kein Wunder, wenn man interne Zahlen wie die der amerikanischen Wirtschaftsprüfung Deloitte kennt: Allein in der Firmenzentrale fallen für die Leistungsbeurteilung der Mitarbeiter jährlich fast zwei Millionen Arbeitsstunden an – weil Manager und Personaler nach Abgabe aller Bewertungsbögen aus den Jahresgesprächen noch wochenlang hinter verschlossenen Türen damit beschäftigt sind, Hunderte von Mitarbeitern weltweit miteinander zu vergleichen und interne Rankings zu erstellen.
Kontrolle ist gut, Förderung ist besser

Fragebogen abgespeckt.
(Foto: Deloitte)
Genau hier setzen Kritiker an. Sie bemängeln, dass die Leistung von Mitarbeitern einmal pro Jahr auf eine einzige Zahl reduziert wird, die schlimmstenfalls über Gehen oder Bleiben entscheide. Damit würden Mitarbeiter gegeneinander gehetzt, Teamgeist und Kreativität blieben auf der Strecke.
Außerdem lassen immer wieder Studien am Erfolg der Kombination aus Leistungsbeurteilung, Zielvereinbarung plus Boni zweifeln. So hat zum Beispiel eine Befragung von 122 Unternehmen in Deutschland, der Schweiz und Österreich mit insgesamt 370000 Mitarbeitern durch die Managementberatung Dr. Strombach ergeben, dass nur 20 Prozent der befragten Unternehmen, die mit ihrem Personal Ziele vereinbaren, dadurch einen positiven Einfluss auf den Gewinn erkennen.
Nun soll sich einiges ändern. Um welche wesentlichen Neuerungen es geht, zeigen Pilotprojekte von Deloitte und SAP. Maren Hauptmann, für Personalthemen zuständige Partnerin bei Deloitte in Deutschland, sagt: „Unser Verfahren soll einfacher werden sowie realistischere und kontinuierlichere Daten liefern.“
Statt bloßer Erfolgskontrolle soll das Leistungspotenzial der Mitarbeiter gefördert und entwickelt werden, da „brauchen wir vielmehr die Zukunftsperspektive als den Rückblick“. Jahresziele sind gestrichen. Mitarbeiter sollen unterjährig häufiger bewertet werden als bisher, wöchentliches Feedback vom Teamleiter wird Pflicht. Außerdem hält die Wirtschaftsprüfung eine Momentaufnahme alle acht Wochen für ideal. Der neue Dreh: Der Vorgesetzte muss dazu online nur noch vier Aussagen ankreuzen.
Die ersten beiden Fragen verlangen nach einem Kreuzchen auf einer Skala von eins bis fünf: „In Anbetracht dessen, was ich über die Leistung dieses Mitarbeiters weiß, und unter der Annahme, dass es sich um mein Geld handelt, würde ich diesem Mitarbeiter die höchstmögliche Gehaltssteigerung und Bonuszahlung gewähren.“ Sowie: „Ich würde mir jederzeit wünschen, dass dieser Mitarbeiter in meinem Team arbeitet.“ Ein simples „Ja“ oder „Nein“ reicht bei diesen Statements: „Dieser Mitarbeiter läuft Gefahr, geringe Leistungen zu erbringen.“ Und: „Dieser Mitarbeiter hat eine Beförderung verdient.“ Wer will, kann Freitext ergänzen.
Alle Momentaufnahmen zusammen ergäben ein realistisches Leistungsmuster, um Schulungen oder Beförderungen abzuleiten und auch Boni fairer zu verteilen, glaubt man bei Deloitte. Dabei „sollten wir uns von der Annahme verabschieden, dass jeder Mitarbeiter immer ,Superman‘ ist und eine konstant hohe Performance zeigt. Das ist doch gar nicht möglich“, sagt Hauptmann. Die höhere Beurteilungsfrequenz erleichtere es einem Vorgesetzten zudem, Kritik zu üben. Er weiß: Sein Mitarbeiter kann die Scharte in den Wochen bis zur nächsten Beurteilung auswetzen.
Nach 500 Mitarbeitern aus der Steuerberatung, die sich freiwillig zum Test gemeldet haben, sollen mit Beginn des neuen Geschäftsjahres im Juni 3 000 Mitarbeiter aus der amerikanischen Beratungssparte hinzukommen. Auch Kanada, Großbritannien und Australien stellen dann um. Wann Deutschland folgt, ist offen.
Während also Deloitte besonders radikal den Fragebogen abspeckt, streicht der deutsche Dax-Konzern SAP die Benotung. Interne Mitarbeiter-Rankings gehen auf den US-Mischkonzern General Electric (GE) zurück. Der ehemalige GE-Chef Jack Welch etablierte in den 1980er-Jahren die 20-70-10-Regel: Demnach sollten die besten 20 Prozent der Angestellten mit Boni belohnt, 70 Prozent gefördert und die schlechtesten zehn Prozent entlassen werden.

Benotung abgeschafft.
(Foto: SAP)
Die Angst vor Noten
Die klügsten Köpfe gewinnt man damit nicht. „Unsere bisherige Leistungsbeurteilung ist wie ein Korsett – eng und nicht mehr zeitgemäß“, sagt Wolfgang Fassnacht. Er ist SAP-Personalleiter in Deutschland und weiß, wie unzuverlässig Ergebnisse des Mitarbeitergesprächs oft sind: Ob Kompetenzen, Motivation, Know-how – „Die Noten 1 und 2 für geringe Leistungen werden von kaum einem Vorgesetzten vergeben“, weiß Fassnacht aus langjähriger Beobachtung. Am häufigsten tauchte die Note 4 in den Bewertungsbögen auf. Wer dann mit einer 3 eingestuft wird, fühlte sich als unterdurchschnittlicher Mitarbeiter. „Das hinterließ ein schlechtes Gefühl bei den Kollegen und machte so alles an konstruktivem Feedback zunichte.“
Ohne Notenangst soll Lob und Kritik nun auch in Walldorf häufiger und direkter geäußert werden. Das Feedback, bislang den offiziellen Gesprächsterminen vorbehalten, soll in die übliche Kommunikation zwischen Führungskraft und Mitarbeiter eingebettet sein. Der Chef kann seine Bewertungen neuerdings sogar unterwegs ins App-Formular eintragen. „Manager sollen mehr offene Kritik üben und den Zuckerguss meiden“, wünscht sich Fassnacht.
Um Teamgeist zu fördern, ist zudem die „Appraisal“-App hinzugekommen: Wer seinem Kollegen zum Beispiel hilft, eine Veranstaltung zu organisieren, oder einer Führungskraft eines anderen Bereichs bei einem Vortrag auffällt, wird damit lobend beim Chef erwähnt. Eine weitere Facette, die das Leistungsbild eines Mitarbeiters abrundet. „Dass sich nicht immer die gleichen Kollegen gegenseitig rühmen, muss der jeweilige Manager im Auge behalten, so wie er ja auch die optimalen Ziele für jeden Mitarbeiter setzen muss“, sagt Fassnacht.
Denn Ziele von der Unternehmensspitze an die Basis abzuleiten bleibt wichtig. Aber SAP erspart sich die Kleinteiligkeit individueller Ziele, um Boni zu berechnen. Seit drei Jahren hängt die Höhe ihrer variablen Vergütung für die Mitarbeiter nur noch vom Unternehmenserfolg ab. Erzielt SAP überdurchschnittliche Zahlen, sind für alle bis zu 150 Prozent drin, weniger als 80 Prozent gibt es garantiert nicht. Rund 10 000 Mitarbeiter starten nun in die neue Zeit ohne Jahresgespräch, 2017 folgen die restlichen 68 000 Mitarbeiter weltweit. Aus dem Experimentalstück könnte so ein neuer Klassiker werden.