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Leonhard-Programm in München Vom Knacki zum Unternehmer

Wer einmal im Gefängnis saß, findet nur schwer wieder eine Arbeit. Das kostet den Staat Milliarden. Ein hierzulande einzigartiges Resozialisierungsprogramm in München will das ändern – und macht aus Sträflingen Gründer.
03.08.2017 - 14:05 Uhr Kommentieren
Viele Insassen müssen von vorn beginnen. Quelle: Leomhardt/Robert Brembeck
Lernen für draußen

Viele Insassen müssen von vorn beginnen.

(Foto: Leomhardt/Robert Brembeck)

München Zwölf Augenpaare fixieren Bernward Jopen, der gerade seine Kursteilnehmer in die Grundlagen des Unternehmertums einführt. Es geht darum, welche Eigenschaften ein Gründer braucht. Warum es reizvoll ist, eine eigene Firma zu leiten, wo Gefahren lauern. „Man ist sein eigener Chef“, sagt einer. Ein anderer meint, man biete Produkte an, mit denen man sich identifiziere. Aber klar, das finanzielle Risiko sei hoch.

Jopen nickt zufrieden. Manche beteiligen sich rege, andere schauen finster drein, aber alle wirken konzentriert. Sie sitzen in einem Saal mit Parkettboden, hohen Decken und Stuckwänden. Fast könnte man glauben, dies sei ein gewöhnliches Seminar für BWL-Erstsemester.

Doch die „Studenten“ sind ausschließlich Männer, alle tragen blaue Hosen und Stoffoveralls. Am Gürtel von Dozent Jopen hängen ein Funkgerät und ein dicker Schlüsselbund, der bei jeder Bewegung klimpert. Die Fenster sind vergittert.

Dies ist definitiv keiner der Gründerkurse, die Jopen viele Jahre an der TU München gegeben hat. Jopen spricht hier gerade zu Drogendealern, Steuerhinterziehern, Betrügern und Gewalttätern – in der Justizvollzugsanstalt München-Stadelheim. Seine Mission: Er will aus Sträflingen Unternehmer oder unternehmerisch denkende Angestellte machen.

Häftlinge im Business-Kurs. Quelle: Leomhardt/Robert Brembeck
Wie gründe ich ein Unternehmen?

Häftlinge im Business-Kurs.

(Foto: Leomhardt/Robert Brembeck)

Der 74-Jährige hat gemeinsam mit seiner Tochter Maren Jopen die Firma Leonhard gegründet, ein gemeinnütziges Unternehmen, benannt nach dem Heiligen Leonhard, dem Schutzpatron der Inhaftierten. Sie wollen Gefängnisinsassen innerhalb von 20 Wochen fit machen für das Leben draußen, für die Arbeit. Und für die Möglichkeit zu gründen. Denn viele Verurteilte hätten großes Potenzial, meint Geschäftsführerin Jopen. „Es wurde allerdings in die falsche Richtung gelenkt.“

Beide sind überzeugt, dass Sträflinge mindestens genauso geschäftstüchtig sind wie die Studenten, die Jopen senior ausbildete. Denn die Insassen bringen vieles mit, was einen erfolgreichen Unternehmer ausmacht: Kreativität, Hartnäckigkeit, Mut. Außerdem glauben die Jopens, dass ihre Schützlinge wie alle anderen eine zweite Chance verdienen – und dass davon die Gesellschaft profitiert. Der Romanautor Hans Fallada beschrieb in seinem Buch „Wer einmal aus dem Blechnapf frisst“ aus den 30er-Jahren, wie der Strafvollzug Häftlinge „untüchtig zum Leben“ mache. Das gilt trotz vielfacher Resozialisierungsmaßnahmen im Prinzip bis heute.

Einmal Lump, immer Lump

Der Umgang und das Klima im Knast können Kleinkriminelle schnell zu Schwerverbrechern machen. „Ein Gefängnis ist ein denkbar schlechter Ort, um Menschen auf ein Leben in der Legalität vorzubereiten“, sagt der Jurist und Kriminologe Bernd Maelicke. Es fehle zudem an wirksamen Bildungsangeboten. Und außerhalb der Gefängnismauern gilt das Sprichwort: „Einmal Lump, immer Lump“. Wer einsaß, hat oft ein ganzes Leben mit Stigmatisierung zu kämpfen. Freunde und Bekannte wenden sich ab, der Arbeitsmarkt ist wie verriegelt.

Wer keinen Job findet, landet schnell wieder in der Illegalität. So überrascht es nicht, dass laut einer Langzeitstudie im Auftrag des Bundesjustizministeriums fast jeder zweite verurteilte Straftäter wieder rückfällig wird. Ein Armutszeugnis für den Strafvollzug.

Hinter den Zahlen der Statistiker verbergen sich nicht nur menschliche Tragödien. Häftlinge kosten den Staat und damit den Steuerzahler auch viel Geld. Bundesweit sind laut dem Kriminologischen Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen etwa 65.500 Menschen inhaftiert. In NRW liegen die Kosten pro Gefangenen und Hafttag bei 133,55 Euro. Insgesamt kostet den Staat der Strafvollzug jedes Jahr schätzungsweise vier Milliarden Euro.

Mit diesem Vorurteil will das Leonhard-Programm aufräumen. Der umtriebige Jopen hat die Idee in den USA entdeckt und bietet sie seit 2011 in Deutschland an. Der Ingenieur gründete nach vielen Jahren bei IBM selbst eine Reihe von Firmen, ehe er von 2002 bis 2009 die Geschäftsführung des UnternehmerTUM Center for Innovation and Business Creation an der Technischen Universität München übernahm, das er mit aufgebaut hatte. Leonhard ist in Deutschland, wohl auch in Europa einzigartig.

Statt Studenten unterrichtet der Mitgründer des Zentrums für Innovation und Gründung an der TU München heute Dealer und Betrüger. Quelle: Leomhardt/Robert Brembeck
Leonhard-Gründer Bernward Jopen

Statt Studenten unterrichtet der Mitgründer des Zentrums für Innovation und Gründung an der TU München heute Dealer und Betrüger.

(Foto: Leomhardt/Robert Brembeck)

Bayernweit nehmen die Jopens Bewerbungen entgegen. Mitmachen darf nur, wer nicht andere für seine Haft verantwortlich macht, noch eine Reststrafe zwischen fünf und zwölf Monaten verbüßen muss und die Leonhard-Scouts in einem persönlichen Interview von sich überzeugen kann. Sexualstraftäter oder notorische Serienbetrüger sind bislang ausgeschlossen. Der Bildungshintergrund spielt indes keine Rolle.

So kommt es, dass Schulabbrecher gemeinsam mit Promovierten an Businessplänen arbeiten. Heterogene Klassen: Worüber Deutschlands Kultusminister streiten, ist bei Leonhard längst Realität. Der MBA-ähnliche Kurs wird zweimal im Jahr angeboten und dauert jeweils 20 Wochen, täglich von 8 bis 15.30 Uhr. Danach brüten die Teilnehmer über ihren Hausaufgaben. Wer es nicht gewohnt ist zu lernen oder Universitäten nur vom Hörensagen kennt, muss hart arbeiten. Nicht jeder bekommt am Ende ein Zertifikat. Weil viele der Häftlinge ihre Aggressionen schwer kontrollieren können, beinhaltet das Programm auch Training in gewaltfreier Kommunikation, eine Methode des US-Psychologen Marshall Rosenberg.

Kreditkarten aus dem Darknet

Jährlich absolvieren das Programm bis zu 38 Häftlinge, pro Teilnehmer kostet es 9500 Euro. 20 Prozent basieren auf Spenden, 80 Prozent finanziert die Bundesagentur für Arbeit. Denn Leonhard wirkt. Eine Studie des Instituts für Unternehmensrechnung und Controlling der betriebswirtschaftlichen Fakultät an der Ludwig-Maximilians-Universität München hat errechnet, dass die Gesellschaft für jeden Euro, den sie in das Leonhard-Projekt investiert, nach drei Jahren 1,70 Euro zurückbekommt.

Transferleistungen entfallen fast vollständig, und auch die Rückfallquoten sind wesentlich niedriger. Laut Leonhard fanden 60 Prozent der entlassenen Absolventen nach durchschnittlich 26 Tagen eine Beschäftigung oder begannen ein Studium, 29 Prozent machten sich selbstständig, 88 Prozent blieben straffrei.

Warum funktioniert die Initiative der Jopens so viel besser als die meisten anderen Resozialisierungsprogramme? Bernd Maelicke kennt die Antwort. Er leitete 15 Jahre lang den Strafvollzug in Schleswig-Holstein und berät Landesregierungen bei Resozialisierungsprojekten. Parallel dazu forschte er, verfasste Bücher zum Thema. Wenn sich einer mit dem Leben nach der Haft auskennt, dann er. Der 76-Jährige ist selbst nach München gereist, um sich zu überzeugen. Leonhard sei so erfolgreich, weil die Jopens sich als Unternehmer, nicht als Resozialisierer verstünden, glaubt Maelicke. „Sie haben ein völlig anderes Menschenbild.“ Sie schauten nicht auf Defizite, sondern auf die Stärken der Häftlinge. „Das Klima ist wertschätzend und partnerschaftlich.“ Bernward Jopen trete wie ein Personaler auf, der seine Mitarbeiter entwickele.

Zentral sei, dass Absolventen nach der Haft nicht allein seien. Sonst kämen die Krisen. Viele müssen von vorn beginnen, haben Partner und Freunde verloren. Ehrenamtliche Leonhard-Mentoren aus der Wirtschaft und anderen Bereichen unterstützen sie dann. Sie sind Ansprechpartner und helfen bei den Gründungsprojekten. Zusätzlich stehen Übergangswohnungen zur Verfügung.

Die Zeit nach ihrer Haft wollen auch ein ehemaliger Betrüger und seine beiden Freunde, zwei verurteilte Drogendealer, meistern. Sie sitzen in einem schicken Esszimmer in Nymphenburg, einem noblen Münchener Viertel. Es gibt Kaffee und Marmorkuchen. Die drei haben sich über das Leonhard-Programm kennen gelernt.

Der Betrüger heißt Felix Brunner (Name von der Redaktion geändert), er feiert nach dreieinhalb Jahren im Gefängnis seinen ersten Geburtstag in Freiheit. Der 32-Jährige ist studierter Betriebswirt und arbeitete unter anderem bei Rocket Internet, ehe ihm die Justiz auf die Schliche kam.

Grund für seine Gaunereien war ein Freundeskreis, in dem man sich Champagnerrunden und Wochenendtrips nach St. Tropez leisten musste. Brunner kommt aus einem wohlhabenden Elternhaus, doch mit den Millionärskumpeln konnte er nicht mithalten. Um nicht aufzufliegen, beklaute er erst seine Eltern, dann fremde Menschen. Ihre Kreditkartendaten kaufte er im Darknet. Nur so konnte er in Edelklubs wie dem Münchener P1 in einer Nacht mal eben 10.000 Euro verfeiern.

„Ich habe irgendwann nur noch gelogen“, sagt Brunner. „Nichts anderes als die Haft hätte etwas verändert.“ Dort habe er echte Freunde kennen gelernt, Mete Kücük und Alexander Rupertinger, seine Geburtstagsgäste. Rupertinger angelt sich ein Croissant. Er hat eine Statur, als könnte er einhändig Schränke verladen. Seinen echten Namen will er nicht in der Zeitung lesen, da er sich um seine Kundschaft sorgt. Er lebt und arbeitet in einem oberbayerischen Dorf in der Nähe von München, wo er nach der Haft 2015 seine alte Firma wiederbelebte.

Während er mit Drogen viel Geld verdiente, brachte die Firma nur einen kleinen Nebenerwerb. Heute hat er zwei Mitarbeiter, die mit ihm Photovoltaikanlagen installieren. Der 34-Jährige und seine neue Frau sind seit kurzem Eltern eines Sohnes. Sie leben gut von der Firma, sagt Rupertinger. „Was ich beim Leonhard-Kurs gelernt habe, ist mit Geld nicht zu bezahlen.“ Insbesondere das Persönlichkeitstraining habe ihm geholfen.

Auch andere Absolventen haben es geschafft und mitunter umsatzstarke Unternehmen aufgebaut. Brunner und sein Geschäftspartner Kücük müssen sich noch bewähren. Auch Kücük hatte wie Brunner Angst, nicht zu genügen. Der 34-jährige Türke und vierfache Vater kommt aus einer sozial schwachen Familie, wie er sagt. Er wollte lieber Boss tragen statt H&M. Einen Benz fahren statt U-Bahn. Nur dann bist du jemand.

Häftlinge bekommen eine zweite Chance. Quelle: Leomhardt/Robert Brembeck
Blick aus der Zelle

Häftlinge bekommen eine zweite Chance.

(Foto: Leomhardt/Robert Brembeck)

Also begann er schon mit 15 Jahren, Haschisch zu verkaufen, saß zweimal in Haft. Er versuchte es auch mal legal in der Gastronomie. Dort arbeitete er so viel, dass der Körper rebellierte. In seiner Brust arbeitet nun ein Herzschrittmacher. Obwohl der studierte Brunner und der Hauptschulabbrecher Kücük aus völlig unterschiedlichen Welten kommen, haben sie gemeinsam ein Unternehmen gegründet, die Jailbird GmbH. Über die Plattform Jabima bieten sie einen Service an, der es Häftlingen ermöglichen soll, schneller mit der Außenwelt zu kommunizieren. Denn es kann Wochen dauern, ehe sie Briefe ihrer Angehörigen oder Freunde erreichen. Eine quälend lange Zeit, wenn Eltern krank werden – und eine große Arbeitsersparnis für die Justizbeamten, sagt Brunner.

Für die drei Freunde steht fest: Es muss von nun an legal gehen, ihren Familien und sich selbst zuliebe. Die Jailbird-Gründer sprechen daher bei Justizministerien vor, um ihren Service bald einsetzen zu können. Doch das Misstrauen ist groß. Bernward Jopen empfiehlt seinen Schützlingen dennoch, ganz offen mit der Vergangenheit umzugehen.

Skepsis zu Beginn

Auch er hat erlebt, wie Türen zufallen. In Landsberg, wo die Jopens ein Pilotprojekt starteten, erlebten sie große Skepsis. Manch einer glaubt gar, Leonhard mache aus durchschnittlichen Kriminellen Profiverbrecher. Wer einen Drogenring geleitet hat, kann mit dem Wissen noch mehr Stoff vertreiben. Dem widerspricht Jopen. „Viele werden aus Not zu Straftätern, andere sind leichtsinnig oder haben ein schlechtes Umfeld.“ Das könne man ändern. Sträflinge lernten, den eigenen Fähigkeiten zu vertrauen. Kriminelle müssten ständig bangen, gefasst zu werden. Die wenigsten wollten diesen Stress.

Während die Rückfallquote deutschlandweit zwischen 46 und 49 Prozent liegt, seien es bei den Leonhard-Absolventen nur noch zwölf Prozent. Kriminologe Maelicke ist überzeugt vom Erfolg des Programms. Trotzdem könne man erst nach vielen Jahren wirklich verlässliche Aussagen machen.

Die Jopens wollen ihr Angebot mit Hilfe der Managementberater von Oliver Wyman ausweiten. Bis 2025 sollen 85 Prozent aller deutschen Gefangenen Zugang zu dem Programm erhalten, soll die Zahl der Absolventen auf 500 pro Jahr steigen. Bis dahin unterrichten Jopen und seine Dozenten weiter in München-Stadelheim.

Dort endet gerade der zweite Tag für den neuen Kurs. Ein Beamter eskortiert die Häftlinge in ihre Zellen. In manchen hängen Bilder nackter Frauen, es riecht nach Zigaretten. Ein verurteilter Drogenhändler hat darüber nachgedacht, was Jopen gerade im Kurs über Vertrauen gesagt hat. „Wie sollen sie später nur Kunden gewinnen?“, fragt er. „Wir sind doch Gangster.“ „Nein“, sagt Jopen, „ihr wart Gangster.“

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