Work-Life-Balance In der großen Zeitmaschine

Mit Zeit besser umzugehen – das lässt sich lernen.
Düsseldorf Werbung lügt. Schlechte Werbung zumindest. Oder sagen wir: dumme. Wenn Werbung klug und ganz bei sich ist, erzählt sie uns stattdessen Wahrheiten, zu denen wir nur nicken können. Dann packt sie uns, weil wir merken, dass sie tiefe Weisheit vermittelt, die wir uns – und das ist dann die beste Werbung von allen – vorher selbst nicht so richtig eingestehen wollten.
Ob man mit dieser Art von Reklame noch Instant-Suppen, Damenoberbekleidung oder Rasen-Vertikutierer verkaufen kann, darf bezweifelt werden. Aber darum geht es dann auch nicht mehr. Es geht um Identifikation und tiefe Gefühle, die am Ende – das wissen wir in postfaktischen Zeiten wie heute – weit wirkungsmächtiger sind als langweilige Informationen über Produkte oder gar Politik.
Insofern ist es nur zwangsläufig, dass das noch recht junge Reklame-Genre des opulenten Weihnachtsspots dieses Jahr stärker boomte als je zuvor. In oft minutenlangen Miniatur-Epen ließen große Konzerne wie H&M oder Kaufhausketten wie Marks & Spencer die Gefühlsorgel teils donnernd dröhnen – zu Hollywood-Kosten und gern mit Oscar-Preisträgern vor oder wenigstens hinter der Kamera garniert.
In Deutschland haben interessanterweise zwei sehr große Konzerne dieses Jahr das gleiche Thema entdeckt und besetzt: unseren alltäglichen Mangel an Zeit … für unsere Kinder, den Partner, Tante Ingeborg oder uns selbst. Volle Terminkalender, chronische Hektik, Druck allerorten – das kennt schließlich jeder. Auch ich.
Entsprechend erfolgreich waren beide Unternehmen in der heute dominierenden Maßeinheit, dem Youtube-Klick: 10,3 Millionen Mal wurde der Edeka-Film #Zeitschenken mittlerweile aufgerufen. Rund drei Millionen Mal das Stück von Otto, das dem von Edeka in Sujet und Titel sehr ähnlich ist – sonst aber ganz anders: #ZeitGeschenk versucht es mit einem aufwendigen Animationsfilm, in dem eine Kleinfamilie im Alltagstrott aneinander vorbeirast, um sich am Ende doch in den Armen zu liegen. Edeka dagegen bietet ein Panoptikum an realen Elternfiguren, die glatt ihre Kinder vergessen und schlussendlich ebenfalls wiederentdecken. „Schenke das Wertvollste, das du hast“, bat Otto – und meinte damit ausnahmsweise nicht das eigene Portfolio von Schmuck bis Unterhaltungselektronik, sondern: „Zeit“.
Auch das kenne ich natürlich aus eigenem Erleben. Da muss ich nur meine eigene 14-jährige Tochter Cora fragen:
Findest du, dass ich auch zu wenig Zeit habe für dich?
Schon, ja.
Ob du’s glaubst oder nicht: Deshalb habe ich natürlich oft ein schlechtes Gewissen.
Kannst du auch haben, Mama übrigens auch. Bei uns ist das schon ein großes Thema, finde ich. Weil alle dauernd zu tun haben.

„Mach doch Homeoffice!“
Du doch genauso … deine Hobbys, die Schule, deine Freundinnen ...
… ja, ja, und bei vielen von denen sind die Eltern schon geschieden. Ich weiß. Das ist dann noch blöder, aber eine andere Liga. Du bist die ganze Woche unterwegs, umso mehr muss am Wochenende alles aufeinander abgestimmt werden. Da wird dann viel zusammengepresst. Klappt nicht immer.
Stimmt leider. Du könntest mich aber ja auch öfter mal anrufen unter der Woche.
Klar. Aber das ist eben doch nicht das Gleiche, als wenn man einfach mal zusammensitzt.
Was rätst du mir?
Homeoffice. Machen doch jetzt alle. Telefonieren kannst du auch von zu Hause aus.
Da darf ich mal dich zitieren: Das ist eben doch nicht das Gleiche, als wenn man einfach mal zusammensitzt – in meinem Fall mit den Kollegen.
Ich hab dich trotzdem lieb.
Danke. Ich dich auch.
Gerade noch mal die Kurve gekriegt, auch wenn das natürlich weit hinter den Happy Ends der beiden Reklame-Dramolette von Edeka und Otto zurückbleibt. Wir bewegen uns in einer extrem technologiegetriebenen Welt, in der den Leuten gefühlt oder ganz real die Zeit auszugehen scheint, das kennen wir doch alle“, sagt Otto-Bereichsvorstand Marc Opelt. „Das Thema ist also derart omnipräsent, dass wir damit rechnen mussten, dass es auch noch von anderen Unternehmen und Werbeagenturen aufgegriffen wird.“
Genauso sieht das sein küchenphilosophischer Konkurrent Peter Ströh, der bei der Werbeagentur Jung von Matt für Edekas Suche nach der verlorenen Zeit mitverantwortlich ist: „Das gesellschaftliche Großthema Zeit und Zeitmangel erschien uns naheliegend und allgegenwärtig.“ So fingen beide Unternehmen schon im Frühjahr mit den Konzepten für ihre Spots an – und merkten erst kurz vorm Start im Advent, dass sie nicht allein sind mit ihrer Erkenntnis.
Studien dazu gibt es übrigens mittlerweile wie Körnchen in der Sanduhr. Je nach Auftraggeber gelten mal Väter und Mütter, mal Studenten, mal schlicht Arbeitnehmer oder sogar schon Schulkinder als hoffnungslos überlastet. Eine Umfrage im Auftrag von Fressnapf würde wahrscheinlich auch bei Hund, Katze und Hamster großes Stresspotenzial enthüllen. Und selbst Edeka-Werber Ströh gibt zu, dass ihm der Spot „aus dem Herzen spricht, klar: Ich habe Frau und zwei Kinder und kenne die Stressphasen – selbst in der finalen Produktion dieses Spots –, wo dann nicht mehr viel Zeit bleibt zum Luftholen oder für die Familie.“
Vom Zeitvertreib zum Zeitvertrieb
Man darf sich das kurz auf der Zunge zergehen lassen: Die Produktion der Botschaft, dass wir alle zu wenig Zeit für unsere Familie haben, ließ Herrn Ströh keine Zeit für seine Familie. Dabei geht es nicht nur um Frau und Kind, sondern bisweilen auch darum – sorry, liebe Tochter! –, selbst mal Kopf und Blick freizukriegen von Mailbox-Dauerbeobachtung und Outlook-Konferenz-Stakkato.
Neben Flüchtlingsproblematik, Terror, Trump- und Brexit-Wahnsinn passte das Thema Zeitmangel und -druck 2016 jedenfalls zu jedem Kantinengespräch wie die Pommes zur Veggie-Currywurst. Die Allianz Deutschland resümierte jüngst, dass sich fast drei Viertel der Deutschen im Job „größerer psychischer Belastung“ ausgesetzt fühlen. Das dazugehörige Krankheitsbild hat sich längst etabliert und erfreut sich auf den Covern von „Apotheken-Rundschau“ bis „Spiegel“ steter Analysen.
Und das, obwohl uns die technische Entwicklung doch immer mehr Freizeit verschafft, die wir als perfektionierte Selbstoptimierer aber eben auch gern mit weiteren Aktivitäten vollnageln – beruflich wie privat. Selbst Entschleunigung kann ja eine wahnsinnig stressige Angelegenheit werden, wenn man sie ernst nimmt. Aus Zeitvertreib ist Zeitvertrieb geworden.
Dabei ist es eigentlich ganz einfach: Edeka-Werber Ströh zum Beispiel versucht, „abends oder an den Wochenenden mal fünfe grade sein zu lassen und lieber mit meinen Kindern Mensch-ärgere-dich-nicht zu spielen, als E-Mails abzuarbeiten“. Und Otto-Bereichsvorstand Opelt arbeitet daran, „ab einem bestimmten Zeitpunkt abends oder an den Wochenenden alle digitalen Geräte auszuschalten“. Er hält es „generell für wichtig, sich solche nichtdigitalen Inseln zu schaffen“.
Ich habe jetzt nicht bei den Familien der beiden Manager nachgefragt, ob das wirklich immer so klappt. Aber natürlich mache auch ich jetzt erst mal ein paar Tage Winterurlaub: mit hochkomplexen Gesellschaftsspielen (deren Gebrauchsanweisungen heutzutage auch ganz schön Druck aufbauen können), Spaziergängen und ganz viel erwartungsfrohem „Hallo-Kind-was-machen-wir?“ raus aus der Zeitmaschine.
Mein Tipp: Nur dabei nicht gleich wieder stressen lassen! Und Humor hilft auch bisweilen.
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