Gastkommentar – Expertenrat Zu viele Pillen und OPs: Warum in der Medizin weniger oft mehr ist

Medikamente werden oft unnötigerweise geschluckt.
Um es plakativ zu sagen: Wir schlucken in Deutschland zu viele Medikamente und operieren zu häufig. Unser gesamtes medizinisches System ist seit Jahrzehnten auf Wachstum und neue Technologien ausgerichtet. Natürlich nicht im Einzelfall, aber unter dem Strich leben gerade Manager und Unternehmer in Deutschland auch deshalb in einer Situation der medizinischen Überversorgung.
Ganze Kongresse beschäftigen sich inzwischen mit dem Thema „Choosing wisely“ – also mit der Frage, was für Patienten mit bestimmten Beschwerden ein reduzierter Ansatz der Heilung sein kann. Wir brauchen in Summe klügere Entscheidungen bei Diagnostik und Therapie. Bei der Bekämpfung von Krankheiten ist weniger oft mehr.
Voraussetzung dafür ist ein Klima der offenen Diskussion zwischen Ärzten und ihren Patienten. Viele medizinische Fachgesellschaften empfehlen ihren Kollegen dabei mehr Mut, von bestimmten Behandlungen abzuraten.
Die Kunst des Tuns oder Lassens müssen viele jüngere Mediziner erst noch erlernen. Sie sind darauf sozialisiert, mit einem Maximum zu behandeln. Das Ziel sollte eher eine deutlich individuellere Medizin sein. Der bewusste Verzicht auf Maßnahmen kann manchmal die bessere Entscheidung sein, für den Arzt und den Patienten.
Kernstück des Choosing-wisely-Ansatzes sind Listen aus jeder klinischen Disziplin mit Behandlungen, die in der Regel unnötig oder zumindest diskussionswürdig sind. Lassen Sie mich aus Sicht des Internisten nur einige Beispiele aufführen, wo die Risiken vermutlich den Nutzen übersteigen:
- Säureblocker: Säureblocker gegen Refluxkrankheit und Magenschleimhautentzündungen werden viel zu häufig und viel zu hochdosiert geschluckt. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine neuere Studie der Universität Zürich. Magenschutzmedikamente sind geradezu ein Paradefall für Überbehandlung. Patienten, die regelmäßig sogenannte Protonenpumpenhemmer einnehmen, sind anfälliger für Knochenbrüche und Darminfektionen. Offenbar erleichtert der säurelose Magen den auslösenden Bakterien den Eintritt in den Körper. Das gilt wahrscheinlich auch für Viren, wie wir von Corona gelernt haben. Außerdem können Säureblocker die Empfindlichkeit des Magens erhöhen, statt ihn zu beruhigen.
- Keine Cholesterinsenker ohne Herzkrankheit: Hochbetagte Patientinnen und Patienten ohne Herz-Kreislauf-Erkrankungen sollten nicht neu mit cholesterinsenkenden Statinen behandelt werden. Aktuelle Studien haben gezeigt, dass der Nutzen sehr gering ist oder ganz fehlt. Erhöhte LDL-Cholesterinwerte verringern bei älteren Menschen nicht die Lebenserwartung. Die Cholesterinhypothese ist also bei älteren Menschen durch gute Studien widerlegt. Zudem können bei Statintherapien Muskelschmerzen und seltene andere Nebenwirkungen auftreten.
- Zurückhaltung bei Eisenbehandlungen: Über den Ferritinwert im Blut kann man feststellen, ob die Eisenspeicher gut gefüllt sind. Wenn der Wert über 15 µg/Liter bei der Laboranalyse liegt und keine Blutarmut oder andere Krankheitszeichen vorliegen, sollten keine Eisenpräparate verordnet werden, weder als Tabletten noch Infusionen. Vielfach werden jedoch Eiseninfusionen etwa bei Müdigkeit und Leistungsabfall durchgeführt. Deren Sinn ist durch nichts gesichert.
- Vitamin-D-Tests sind oft überflüssig: Die Messung des Vitamin-D-Spiegels verursacht Kosten und hat selten Einfluss auf das empfohlene Vorgehen des Arztes. Wenn keine Risiken für einen Vitamin-D-Mangel ersichtlich sind, hat auch eine präventive Einnahme keinen Nutzen. Die Einnahme von Vitamin D zur Vorbeugung gegen Osteoporose bei ansonsten gesunden, aktiven Erwachsenen ist völlig unnötig. Gesunde müssen sich um ihren Vitamin-D-Spiegel keine Sorgen machen. Wer täglich einen Spaziergang macht, kann damit über 80 Prozent des Tagesbedarfs an Vitamin D decken.
- Keine Antibiotika bei viralen Infekten: Der Klassiker! Es gilt als gesichert, dass nahezu 90 Prozent aller Erkältungen mit den typischen Symptomen wie Husten, Schnupfen und Halsschmerzen durch Viren hervorgerufen werden. Gegen Viren sind Antibiotika machtlos und haben oft Nebenwirkungen. Zudem entwickelt der Körper eine zunehmende Resistenz gegen das Antibiotikum, sodass es weniger effizient wirkt, wenn der Körper es wirklich braucht.
Wird bei Krebsverdacht zu häufig operiert?
Neben der Einnahme unnötiger Chemie sind voreilige Operationen der zweite Pfeiler meiner Argumentation. Ich habe kürzlich zwei Patienten gesehen, die komplizierte Operationen an der Bauchspeicheldrüse hinter sich hatten. In beiden Fällen war allein der Verdacht auf Krebs in der Bauchspeicheldrüse ausschlaggebend für die Operationen.
Die Gewebeanalysen zeigten dann aber, dass lediglich Entzündungen vorlagen. Die häufige Diagnose Krebs mit kurzfristiger Operation hängt auch damit zusammen, dass mit modernsten bildgebenden Untersuchungsmethoden Ärzte heute kleinste Tumore in Organen, etwa der Schilddrüse, entdecken.
Auch Knieoperationen werden zu häufig in Form von Arthroskopien bei Meniskusanrissen durchgeführt. Die Erfahrung zeigt, dass konservative Therapien oft zu einer mittel- bis langfristigen Beschwerdefreiheit führen können. Zu den möglicherweise entbehrlichen Operationen gehören Eingriffe an der Wirbelsäule. Oft werden Regionen operiert, die mit der Schmerzentstehung gar nichts zu tun haben, oder postoperative Narbenbildung trägt zu zusätzlichen Schmerzen bei.
Wer als Patient weniger Medikamente einnehmen will und sich bei Beschwerden nicht immer gleich operieren lässt, findet damit gegebenenfalls zurück zu seinem biologischen Potenzial. Zu diesem bewussteren Ansatz einer „smarten Medizin“ gehört es also für den Einzelnen auch, sich und seinen persönlichen Lebensstil zu überprüfen, um gesünder zu leben, statt immer nur nach der nächsten Pille zu greifen.
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Curt Diehm ist ärztlicher Direktor der auf Führungskräfte spezialisierten Max-Grundig-Klinik. Der Internist lehrt zudem als außerplanmäßiger Professor an der Universität Heidelberg und ist Autor von über 200 wissenschaftlichen Originalpublikationen sowie vielen Sachbüchern.
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Ich kann diesem Artikel aufgrund eigener Erfahrungen nur beipflichten, insbesondere was die oft unnötige Resektion von an sich ungefährlichen Tumoren angeht. Vor ca. 10 Jahren wurden bei mir Tumore auf beiden Nieren diagnostiziert, von denen der auf der rechten Niere operativ entfernt wurde, die Entfernung des Tumors auf der anderen Niere auch geplant. Bei dieser Operation bin ich fast an dabei auftretenden Komplikationen gestorben. Da ich Molekularbiologe bin, habe ich mir meinen Tumor mit einer bisher nicht zugelassenen Methode der modernen Präzisionsonkologie analysiert. Ergebnis: der Tumor war ungefährlich. Darauf habe ich die Signaturen des noch bestehenden Tumors im Blut analysiert. Ergebnis: dieselbe Signatur wir der entfernte Tumor, also ebenfalls ungefährlich. Daher habe ich die zweite, geplante Operation verweigert und mir so eine weitere lebensgefährliche Operation erspart. Der noch bestehende Tumor zeigt seit 10 Jahren keine sichtbaren Veränderungen und auch unveränderte Signaturen im But. Ich denke, ich kann damit alt werden. Als persönliches Fazit denke ich, dass ich wie viele andere Patienten das Opfer der viel zu langsamen Etablierung moderner, personalisierter Diagnoseverfahren in der Medizin bin. Schuld daran sind sowohl die viel zu schlecht ausgebildeten Mediziner, die sich auf vorsintflutliche Behandlungsrichtlinien verlassen müssen, als auch die Politik, die ungenügende Weichen zur Umsetzung moderner Verfahren in die Praxis stellt. Zurzeit arbeite ich an einem Nachweis frühzeitigen für Alzheimer aus dem Blut. Nach meinen Erfahrungen wird es noch mindestens 10 Jahre dauern, bis der Test Einzug in die Praxis findet, obwohl er schon heute gut funktioniert.