Gastkommentar Wie sich Corona mit Impfanreizen besiegen ließe

Wenn Geimpfte sofort ihre vollständigen Freiheiten zurückerlangen, dann wirkt das als Ansporn für alle anderen.
Ich habe mich letztes Jahr über all jene geärgert, die Covid-19 verharmlost haben und daher nicht nur keine Notwendigkeit für staatliche Maßnahmen sahen, sondern dem Staat auch jede Berechtigung absprachen, individuelle Freiheiten einzuschränken.
Für einen Ökonomen und Spieltheoretiker ist ein mögliches Marktversagen hier der Ausgangspunkt allen Denkens. Dieses liegt zum Beispiel vor, wenn dezentrale Entscheidungen einzelner Akteure nicht zu einem gesellschaftlichen Optimum führen, weil die Entscheider nicht die Konsequenzen ihrer Handlungen für andere bei ihrer Entscheidungsfindung berücksichtigen. Ökonomen nennen dies „externe Effekte“ – eine Form des Marktversagens, das staatliche Interventionen notwendig machen kann.
Nun sterben jährlich mehr Menschen durch zu viel Fett, Zucker und Alkoholkonsum an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs als durch Covid-19. Trotzdem reguliert der Staat unsere Ess- und Trinkgewohnheiten nicht so, wie er dies nun seit fast 18 Monaten mit unseren Sozialkontakten tut.
Der Staat hat zwar immer die Aufgabe aufzuklären, wie er es zum Beispiel bei Übergewicht und Trinken tut. Aber wer sich selbst zu Tode futtern oder trinken will, der darf das. Denn er schadet ja durch sein Ableben höchstens mittelbar anderen.
Wenn es nur darum ginge, welche Folgen dem einzelnen Covid-19-Infizierten drohen, hätten die meisten Ökonomen wohl an der Seite des schwedischen Staatsvirologen Anders Tegnell gestanden. Seine Maxime war: „Schützt die Menschen in Kranken- und Pflegeeinrichtungen maximal“ (da versagte der schwedische Staat dann allerdings), „ansonsten klärt auf und vertraut auf das Verantwortungsgefühl des Einzelnen“.
Marcus Schreiber ist Gründungspartner und Chief Executive Officer bei TWS Partners. Er verfügt über langjährige Erfahrung im strategischen Einkauf und breites Branchen-Know-how. Seine Schwerpunkte liegen im Bereich strategischer Einkauf, angewandte Industrieökonomik und Market Design. Außerdem unterstützt er Unternehmen dabei, spieltheoretisches Wissen in komplexen Vergabeentscheidungen anzuwenden.
Das Problem dabei waren jedoch die zwei weiteren Menschen, die ein Infizierter im Schnitt ansteckt, wenn der Staat nicht regulierend eingreift. Wenn zum Beispiel die eigene Entscheidung, keine Maske zu tragen, Mitmenschen auf Intensivstationen befördert und dazu beiträgt, die gesamte medizinische Versorgung eines Landes durch die Überlastung von Krankenhäusern zu gefährden, dann ist das ein negativer externer Effekt. Und zwar in einer der extremsten Formen überhaupt.
Corona: Impfquote von 80 bis 90 Prozent anstreben und das Virus besiegen
In spätestens zwei bis drei Monaten, wenn nahezu alle Hochrisikogruppen und Impfwilligen in Deutschland geimpft sein werden, müsste es aber – so die ökonomische Denkweise – zu einem fundamentalen Paradigmenwechsel kommen.
Das Robert Koch-Institut geht von einer viermal geringeren Ansteckungsgefahr von Geimpften und einem deutlich kürzeren Ansteckungszeitraum aus. Die externen Effekte nehmen also drastisch ab. Hinzu kommt, dass jeder Geimpfte selbst weitestgehend vor schweren Krankheitsverläufen geschützt ist. Bald hat also jeder, der will, weitestgehende Immunität. Diese kann regelmäßig durch eine Impfung aufgefrischt und erweitert werden – solange Impfstoffe in ausreichender Menge zur Verfügung stehen und auch gegen Mutationen schützen oder schnell genug angepasst werden können.
Schon vor Monaten hat der israelische Gesundheitsminister nach der im eigenen Land sehr erfolgreichen Impfkampagne erklärt, dass bei einer entsprechend hohen Impfquote der über 50-Jährigen eine Inzidenz von 500 gesundheitspolitisch weniger gravierend ist als eine Inzidenz von 50 ohne diese Impfungen. In Europa ist Deutschland bei der Impfquote mit führend, dennoch haben sich Tonalität und Diskussion in Deutschland bislang kaum geändert.
Wir müssen uns in Deutschland entscheiden: Wollen wir es den individuellen (Impf-)Entscheidungen jedes Einzelnen überlassen, mit einer Impfquote um die 60 Prozent das Virus mit vertretbaren Inzidenzen im Zaum zu halten?
Angesichts der Möglichkeit für jeden, sich selbst per Impfung zu schützen, könnte ich gut damit leben. Dann käme dem Staat nur noch eine unterstützende und aufklärende Rolle zu, ähnlich wie bei den ungesunden Ess- und Trinkgewohnheiten. Oder wollen wir vielmehr dem Virus den Garaus machen? Dann müssen wir eine Impfquote von 80 bis 90 Prozent anstreben, und zwar bitte mit aller Konsequenz, um den Spuk bald zu beenden.
Diskriminierung kann auch etwas Gutes sein
Aber wie? Wem eine staatlich verordnete Impfpflicht für die breite Bevölkerung zu weit geht, der kann sich aus dem Baukasten der Verhaltensökonomen bedienen und auf Anreize setzen. In der Anfangsphase der Impfkampagne forderte man von den Geimpften „Solidarität“ – man wollte keinen „Impfneid“ aufkommen lassen und verpasste so eine wunderbare Chance.
Wenn Geimpfte sofort ihre vollständigen Freiheiten zurückerlangen, dann wirkt das als Ansporn für alle anderen, so wie das neue Auto oder Haus des Nachbarn. Impfen wird etwas Erstrebenswertes, die „positive Diskriminierung“ der Geimpften zum Anreiz und Impfneid wird ein wesentliches Instrument im Finale gegen Covid-19.
Ökonomen haben grundsätzlich ein sehr viel unverkrampfteres Verhältnis zum Wort „diskriminieren“. Im eigentlichen, lateinischen Wortsinn heißt es lediglich „unterscheiden“. Zu unterscheiden kann durchaus gerechtfertigt sein, solange die Unterscheidung auf einen objektiven Tatbestand zurückzuführen ist und jeder die Chance hat, diesen Tatbestand herbeizuführen – etwa durch eine Impfung.
Gängige Diskriminierungen sind beispielsweise die Business Class oder die Vielfliegerprogramme der Fluglinien. Um diese attraktiv zu machen, muss der Unterschied zur Economy Class groß, erfahrbar und sichtbar sein. Check-in-Schlangen für Economy müssen daher etwas länger und für Business Class nicht existent sein.
Auf Covid-19 übertragen heißt das, jetzt den Geimpften maximale Freiheiten einzuräumen, auch wenn das nicht der reinen Epidemiologie-Lehre entspricht. Und andersrum, volljährigen Ungeimpften diese Freiheiten zu verwehren. Da wir aus einer Verbotswelt kommen, würde das als positives Privileg für Geimpfte statt als Abstrafung der Impfverweigerer gesehen werden. Die gesellschaftliche Akzeptanz sowie die Wirksamkeit zur Vermeidung einer weiteren Welle wären jetzt am größten.
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