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GastkommentarBei Physical AI kann Europa weltweit in Führung gehen

Der nächste Technologiesprung liegt nicht in Sprachmodellen, sondern im Training von Maschinen. Dafür hat Europa die besten Karten, meinen Thomas Kropf, Philipp Harbach und Markus Hoffmann. 01.07.2025 - 08:52 Uhr Artikel anhören
Die Autoren Thomas Kropf, Philipp Harbach und Markus Hoffmann (v.l.). Foto: Paul Langrock/laif, PR (3)

Bei der Künstlichen Intelligenz beherrschen zwar Sprach‑ und Bildmodelle die Schlagzeilen, doch der nächste Technologiesprung durch KI entsteht dort, wo Maschinen lernen, Materialien reagieren und Fertigungsprozesse sich selbst optimieren.

Dafür hat Europa die besten Karten: Milliarden proprietärer Prozess‑ und Sensordaten, jahrzehntelanges Ingenieurwissen und nach wie vor gewaltige Kapitalreserven.

Diese Mischung macht „Physical AI“ – KI, die auf physischen Mess‑ und Maschinendaten statt auf Internettexten trainiert – zur wohl letzten großen Chance Europas, die technologische Führung zurückzuerobern.

Schnellere Entwicklung von Robotern und neuen Materialien

Richtig eingesetzt, beschleunigt sie Forschung, Fertigung und Logistik radikal. Doch wer jetzt abwartet, gibt den Vorsprung kampflos preis.

Roboter sind das sichtbarste Beispiel. Grundlage bilden sogenannte Foundation-Modelle, die ähnlich wie ChatGPT, aber multimodal trainiert werden: Bild, Audio, Tastsinn und Bewegung fließen in ein gemeinsames Modell.

Greifarme erkennen dadurch unbekannte Objekte, schätzen deren Schwerpunkt ab und planen sichere Bahnen. Gepaart mit Simulationen absolvieren Automaten in Stunden Millionen Lernzyklen, für die klassische Versuchslabore Monate bräuchten. Ergebnis: kürzere Rüstzeiten, geringere Ausschussquoten und flexiblere Losgrößen.

Wachstum

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Ebenso groß ist der Hebel in den Material- und Prozess­wissenschaften. KI beschleunigt die Suche in ohnehin gigantischen Suchräumen: Statt wie bisher nur wenige Hundert Materialformulierungen experimentell zu prüfen, durchforsten Algorithmen binnen Stunden Millionen realistischer Kombinationen für Legierungen, Katalysatoren oder Hochleistungs­polymere und filtern jene mit industriellem Wert heraus - ein Aufwand, der durch rein experimentelles Vorgehen praktisch unmöglich wäre.

Autonome KI‑Agenten analysieren Materialien mithilfe von Quanten­simulationen, werten Labor­daten und Patent­literatur parallel aus und schlagen innovative Werkstoffe vor, die sich industriell fertigen lassen. Sie koordinieren vollautomatische Syntheselabore – also Roboterstationen, die Chemikalien mischen, erhitzen und messen – und optimieren Versuchsreihen nahezu in Echtzeit.

So schrumpft die Entwicklungs­dauer für neue Materialien von zehn Jahren auf wenige Quartale – ein Turbo für CO₂-armen Zement, Festkörper­batterien oder hitzefeste Halbleiter und damit eine Eintrittsbarriere, die außerhalb des Kontinents kaum replizierbar ist.

Was Europas Vorsprung gefährdet

Doch drei Bremsklötze gefährden Europas Vorsprung.

    Risikokapital fehlt, insbesondere nach der Frühphase. Während US-Pensionsfonds zweistellige Prozentsätze in Deeptech-Fonds lenken, liegt der Anteil institutioneller Anleger in der EU laut Invest Europe unter zwei Prozent.Die Datensilos vieler Konzerne bleiben geschlossen. Ohne kuratierte, gemeinsam genutzte Datenräume sind selbst modernste Modelle blind.Hochqualifizierte Fachkräfte wandern ab, wenn Projektfreiräume, Rechenressourcen und Beteiligungsmodelle fehlen.

Was jetzt passieren muss

Um Europas Innovationskraft zu heben, gibt es drei zentrale Hebel:

    Unternehmen müssen mehr investieren: Konzerne sollten einen signifikanten Betrag – klar über ein Prozent des Umsatzes – in eigenständige Physical‑AI‑Labs oder Joint Ventures mit Start‑ups investieren. Diese Einheiten brauchen Budgetautonomie, Vollzugriff auf Produktionsdaten und equity‑basierte Anreize.
    Erfolg misst sich daran, ob in fünf Jahren ein Drittel des Umsatzes aus KI‑gestützten Neuprodukten stammt. Pauschale F&E‑Steuergutschriften hebeln privates Kapital und verkürzen Amortisationszeiten.
    EU sollte einen Fonds für Physical AI gründen: Mit 0,2 Prozent des EU‑Haushalts ließe sich ein Fonds für hundert radikale Experimente finanzieren – von CO₂‑freien Chemikalien bis Zwei‑Nanometer‑Chips.
    Bewerbung auf zehn Seiten, Entscheid binnen 90 Tagen, messbare Resultate nach zwölf Monaten. Scheitert ein Projekt, entstehen offene Datensätze. Gelingt es, erhält der Gewinner automatischen Marktzugang über EU‑Aufträge und eine Beschaffungsgarantie.
    Silos aufbrechen: Vertrauenswürdige Datenräume, modulare Testanlagen und erschwinglicher Zugang zu Rechenleistung verbinden Universitäten, KMUs und Start‑ups.
    Interdisziplinäre Teams aus Produktion, IT und Forschung bekommen so unmittelbaren Zugriff, brechen Silos auf und entscheiden in Tagen statt Quartalen – jedes zusätzliche Terabyte Prozessdaten verbessert die Modelle exponentiell. Einheitliche Datentreuhandverträge und vereinfachte IP‑Regeln an Hochschulen senken Haftungsrisiken und verkürzen Integrationszeiten.

Die Uhr tickt. Asiatische Wettbewerber demonstrieren täglich, wie rasch neue Paradigmen etablierte Marktführer verdrängen. Physical AI entscheidet, ob Europa künftig Technologie importiert oder exportiert.

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Die Daten liegen auf unseren Maschinen, die Fachkompetenz in den Werkhallen, das Kapital in den Bilanzen – es fehlt nur der entschlossene Schulterschluss. Europas nächste Industrierevolution ist machbar. Aber sie muss jetzt beginnen.

Die Autoren:
Thomas Kropf war bis Ende vergangenen Jahres Forschungschef bei Bosch. Derzeit ist er Lehrbeauftragter für Informatik an der Universität Tübingen und strategischer Partner bei SKV Invest.
Philipp Harbach leitet die digitale Innovation von Merck.
Markus Hoffmann ist Vertriebsvorstand von CuspAI, einer Suchmaschine für Materialien.

Mehr: Chemie, Medizin, Robotik – KI erweitert die Grenzen des Möglichen

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