Gastkommentar: Bei Physical AI kann Europa weltweit in Führung gehen

Bei der Künstlichen Intelligenz beherrschen zwar Sprach‑ und Bildmodelle die Schlagzeilen, doch der nächste Technologiesprung durch KI entsteht dort, wo Maschinen lernen, Materialien reagieren und Fertigungsprozesse sich selbst optimieren.
Dafür hat Europa die besten Karten: Milliarden proprietärer Prozess‑ und Sensordaten, jahrzehntelanges Ingenieurwissen und nach wie vor gewaltige Kapitalreserven.
Diese Mischung macht „Physical AI“ – KI, die auf physischen Mess‑ und Maschinendaten statt auf Internettexten trainiert – zur wohl letzten großen Chance Europas, die technologische Führung zurückzuerobern.
Schnellere Entwicklung von Robotern und neuen Materialien
Richtig eingesetzt, beschleunigt sie Forschung, Fertigung und Logistik radikal. Doch wer jetzt abwartet, gibt den Vorsprung kampflos preis.
Roboter sind das sichtbarste Beispiel. Grundlage bilden sogenannte Foundation-Modelle, die ähnlich wie ChatGPT, aber multimodal trainiert werden: Bild, Audio, Tastsinn und Bewegung fließen in ein gemeinsames Modell.
Greifarme erkennen dadurch unbekannte Objekte, schätzen deren Schwerpunkt ab und planen sichere Bahnen. Gepaart mit Simulationen absolvieren Automaten in Stunden Millionen Lernzyklen, für die klassische Versuchslabore Monate bräuchten. Ergebnis: kürzere Rüstzeiten, geringere Ausschussquoten und flexiblere Losgrößen.
Ebenso groß ist der Hebel in den Material- und Prozesswissenschaften. KI beschleunigt die Suche in ohnehin gigantischen Suchräumen: Statt wie bisher nur wenige Hundert Materialformulierungen experimentell zu prüfen, durchforsten Algorithmen binnen Stunden Millionen realistischer Kombinationen für Legierungen, Katalysatoren oder Hochleistungspolymere und filtern jene mit industriellem Wert heraus - ein Aufwand, der durch rein experimentelles Vorgehen praktisch unmöglich wäre.
Autonome KI‑Agenten analysieren Materialien mithilfe von Quantensimulationen, werten Labordaten und Patentliteratur parallel aus und schlagen innovative Werkstoffe vor, die sich industriell fertigen lassen. Sie koordinieren vollautomatische Syntheselabore – also Roboterstationen, die Chemikalien mischen, erhitzen und messen – und optimieren Versuchsreihen nahezu in Echtzeit.
So schrumpft die Entwicklungsdauer für neue Materialien von zehn Jahren auf wenige Quartale – ein Turbo für CO₂-armen Zement, Festkörperbatterien oder hitzefeste Halbleiter und damit eine Eintrittsbarriere, die außerhalb des Kontinents kaum replizierbar ist.
Was Europas Vorsprung gefährdet
Doch drei Bremsklötze gefährden Europas Vorsprung.
Was jetzt passieren muss
Um Europas Innovationskraft zu heben, gibt es drei zentrale Hebel:
Erfolg misst sich daran, ob in fünf Jahren ein Drittel des Umsatzes aus KI‑gestützten Neuprodukten stammt. Pauschale F&E‑Steuergutschriften hebeln privates Kapital und verkürzen Amortisationszeiten.
Bewerbung auf zehn Seiten, Entscheid binnen 90 Tagen, messbare Resultate nach zwölf Monaten. Scheitert ein Projekt, entstehen offene Datensätze. Gelingt es, erhält der Gewinner automatischen Marktzugang über EU‑Aufträge und eine Beschaffungsgarantie.
Interdisziplinäre Teams aus Produktion, IT und Forschung bekommen so unmittelbaren Zugriff, brechen Silos auf und entscheiden in Tagen statt Quartalen – jedes zusätzliche Terabyte Prozessdaten verbessert die Modelle exponentiell. Einheitliche Datentreuhandverträge und vereinfachte IP‑Regeln an Hochschulen senken Haftungsrisiken und verkürzen Integrationszeiten.
Die Uhr tickt. Asiatische Wettbewerber demonstrieren täglich, wie rasch neue Paradigmen etablierte Marktführer verdrängen. Physical AI entscheidet, ob Europa künftig Technologie importiert oder exportiert.






Die Daten liegen auf unseren Maschinen, die Fachkompetenz in den Werkhallen, das Kapital in den Bilanzen – es fehlt nur der entschlossene Schulterschluss. Europas nächste Industrierevolution ist machbar. Aber sie muss jetzt beginnen.
Die Autoren:
Thomas Kropf war bis Ende vergangenen Jahres Forschungschef bei Bosch. Derzeit ist er Lehrbeauftragter für Informatik an der Universität Tübingen und strategischer Partner bei SKV Invest.
Philipp Harbach leitet die digitale Innovation von Merck.
Markus Hoffmann ist Vertriebsvorstand von CuspAI, einer Suchmaschine für Materialien.
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