Gastkommentar Digitale Hauptversammlung sollte zur dauerhaften Alternative weiterentwickelt werden

Paul Achleitner ist Vorsitzender des Aufsichtsrats der Deutschen Bank.
Not macht erfinderisch. Dies hat die Coronakrise gezeigt. Die Pandemie hat uns zu einem enormen Digitalisierungsschub gezwungen, der möglich macht, was bis vor Kurzem noch unmöglich erschien. Das gilt auch für die Hauptversammlung. Aus Präsenzveranstaltungen sind Aktionärstreffen im virtuellen Raum geworden, damit Unternehmen im Austausch mit ihren Aktionären handlungsfähig bleiben konnten.
Inzwischen wurden in Deutschland mehr als 360 Hauptversammlungen über das Internet durchgeführt. Und dabei wird es nicht bleiben: Angesichts der anhaltenden Pandemie ist es auch richtig, dass die Ausnahmebedingungen für digitale Hauptversammlungen in das neue Jahr überführt werden.
Aber unabhängig davon müssen wir darüber diskutieren, ob wir aus der Not nicht eine Tugend machen sollten. Aller Skepsis zum Trotz konnten die virtuellen Hauptversammlungen ordentlich durchgeführt werden. Die Präsenzquoten bei Dax-Unternehmen legten kräftig zu. Vor allem auch ausländische Aktionäre, die mehr als die Hälfte der Dax-Aktien halten, schätzen die Vorteile einer digitalen Hauptversammlung. Sie konnten gesundheits- und umweltschonend an dem Aktionärstreffen teilnehmen, ohne langwierige Anreise.
Es muss in unserem Interesse liegen, möglichst viele Aktionäre dafür zu gewinnen, sich mit ihrem Unternehmen auseinanderzusetzen und ihre Rechte wahrzunehmen. Denn die hohen Präsenzen sind auch ein Garant gegen Zufallsmehrheiten. Im Interesse aller Anteilseigner dürfen Unternehmen nicht Spielball einer Minderheit werden, die durch niedrige Präsenzen oder sehr kurzfristige Antragstellung zufällig zur Mehrheit wird.
Gute Hauptversammlungen zeichnen sich aber nicht nur durch eine hohe Präsenz, sondern auch durch einen guten Dialog aus. Eine Reihe von Unternehmen hat bereits in der Hauptversammlungssaison 2020 aus dem Stand heraus innovative Formate geschaffen, die zum Dialog einluden. So hat die Deutsche Bank wie beispielsweise auch Uniper vorab Hauptversammlungsreden veröffentlicht, um den Aktionären eine Möglichkeit für Fragen und Reaktionen darauf zu geben.
Moderation macht Hauptversammlung lebendiger
Zudem haben Unternehmen wie die Gea Group und die Deutsche Bank ihre Aktionäre dazu eingeladen, vorab Beiträge zur Tagesordnung einzusenden, die dann sichtbar für alle Aktionäre auf der Website des Unternehmens veröffentlicht wurden. Stimmrechtsweisungen konnten bis zum Ende der Hauptversammlung geändert werden. Darüber hinaus gestaltete eine eigene Moderation wie auch bei Osram die Hauptversammlung lebendiger.
Aber wir alle wissen, dass wir damit die Möglichkeiten, die moderne digitale Kommunikationstools bieten, bei Weitem noch nicht ausgeschöpft haben. Um ehrlich zu sein, erinnerte so manche Hauptversammlung mehr an TV-Nachrichtenstudios aus den 80er-Jahren als an moderne Kommunikationsformate.
Die nächste Saison sollten wir also nutzen, um hier mutiger zu werden. Vieles von dem, was sich in den vergangenen Monaten im digitalen Raum bewährt hat und inzwischen zum Standard gehört, kann und sollte auch für künftige Hauptversammlungen angewendet werden.
Sinnvoll ist sicher, dass Fragen vor der Hauptversammlung gestellt werden. Dies führt aufgrund der längeren Vorbereitungszeit zu einer höheren Qualität der Antworten. Fakten müssen so nicht mehr ad hoc hinter der Bühne zusammengetragen werden, und in der Generaldebatte können Themencluster gebildet werden, die eine fokussierte Beantwortung ermöglichen. So konnte die Deutsche Bank in der Hauptversammlung 2020 fast doppelt so viele Fragen wie im Jahr davor beantworten.
Bessere Beteiligung der Aktionäre
Voraussetzung für gute Fragen und Kommentare ist dabei natürlich auch, dass nicht nur die Tagesordnungen bekannt sind, sondern auch die Ausführungen des Aufsichtsrats und des Vorstands zur Hauptversammlung. Mit Blick auf den Veröffentlichungszeitpunkt gilt es einen Kompromiss zu finden zwischen dem Wunsch nach genügend Zeit für eine Replik der Aktionäre und der Aktualität.
Die Deutsche Bank hatte gute Erfahrungen damit gemacht, die Reden acht Tage vor der Hauptversammlung zu veröffentlichen. Dies gab ausreichend Zeit für Fragen und Kommentare. Gleichzeitig litt nicht die Aktualität der Information. Derzeit ist es rechtlich erforderlich, dass diese Beiträge dann im Rahmen der virtuellen Hauptversammlung noch einmal vorgetragen werden. Eine Dopplung, die meines Erachtens nicht sinnvoll ist.
Positive Reaktionen gab es auch auf das Angebot, Statements von Aktionären zu den Reden oder zur Tagesordnung vorab auf der Website zu veröffentlichen. Aber auch hier gilt, dass die technischen Möglichkeiten noch besser genutzt werden sollten. So sollten Aktionäre oder ihre Vertreter neben schriftlichen Standpunkten auch Videobotschaften zur Sache anderen Aktionären zugänglich machen können.
Darüber hinaus sollten die Anteilseigner auch während der Hauptversammlung Nachfragen zu den Themenkomplexen der Generaldebatte oder zur Tagesordnung stellen können, zu denen sie bereits Fragen gestellt hatten. Das ginge über Chatfunktionen oder auch direkte Liveschalten, wie wir sie aus dem TV kennen.
Rechtliche Fragen klären
Das wird aber nur dann funktionieren, wenn klare Spielregeln sicherstellen, dass die Möglichkeit zu Rückfragen nicht wiederum zu einem Beschäftigungsfeld für eine Armada von Anwälten und Experten wird. Schließlich sind der rechtliche Aufwand und der geradezu ritualisierte Ablauf deutscher Hauptversammlungen vor allem dem stetigen Risiko geschuldet, Anlass für Anfechtungsklagen aus formalen Gründen zu geben.
Ein Blick auf die Schweiz zeigt, dass es auch pragmatischer geht, ohne den zentralen Anspruch der Aktionäre auf Auskunft durch die Unternehmensleitung ungebührlich einzuschränken. Bei ähnlichem Aktienrecht fokussiert sich dort das Informationsrecht in der gelebten Praxis auf die Fakten, die für eine vernünftige und sachgemäße Entscheidung über die Annahme des Jahresabschlusses und die Gewinnverwendung, für Wahlen und für die Entlastung erheblich sind.
Dabei ist es selbstverständlich auch in der Schweiz möglich, Beschlüsse anzufechten – wenn die Unternehmensführung gegen Gesetze oder Statuten der Gesellschaft verstoßen haben könnte und diese möglichen Rechtsverletzungen einen Einfluss auf die Beschlussfassung hatten.
Zu prüfen wäre schließlich ebenfalls, wie Anträge zu einer digitalen Hauptversammlung rechtssicher gestellt werden können. Eine Grundvoraussetzung ist dabei, dass die Abstimmung ausschließlich elektronisch über einen sicheren Weg erfolgt.
Bei allen Reformen muss sichergestellt sein, dass die Debatte im digitalen Raum nicht dazu genutzt wird, die Hauptversammlung in die Länge zu ziehen und rechtliche Verstöße zu provozieren.
Bilanz ist positiv
Rechtssicherheit braucht es auch bei Übertragungsproblemen: Wenngleich es bei den zurückliegenden digitalen Hauptversammlungen zu keinen nennenswerten technischen Schwierigkeiten kam, so sollte die Beschränkung der Anfechtungsmöglichkeit von Beschlüssen bei technischen Störungen beibehalten werden.
Ein Ausfall beispielsweise der WLAN-Verbindung eines Aktionärs darf kein Anlass für einen langwierigen Rechtsstreit und die damit verbundene Unsicherheit für das Unternehmen sein. Hier ist der Gesetzgeber gefragt, die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen.
Nach einem Jahr lässt sich somit sagen: Die digitale Hauptversammlung bietet viele Möglichkeiten, Aktionäre intensiver einzubinden und die Interaktion zu intensivieren, anstatt sie zu beschränken.
Wir sollten weiter daran arbeiten, digitale Hauptversammlungen so interaktiv wie möglich zu gestalten und damit ein Erlebnis zu erzeugen, das so nah wie möglich an das einer Präsenzhauptversammlung herankommt. So können wir die Voraussetzung dafür schaffen, dass die digitale Hauptversammlung nicht nur zum Intermezzo, sondern dauerhaft eine Alternative zu physischen Aktionärstreffen wird.
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