Gastkommentar Es fehlt ein Bewusstsein für Cyberrisiken

Ralf Wintergerst ist Vorsitzender des Sicherheitsnetzwerks München e. V. und Group CEO von Giesecke&Devrient.
Reichtum hat sich über Jahrtausende an handfesten Werten bemessen: an Rohstoffen, Land- und Immobilienbesitz, an Industrieanlagen. Territorialen Werten also, die entsprechend territorial gesichert werden konnten. So haben sich die Souveränitätsansprüche der Vergangenheit in Grenzen, Mauern, Zöllen und dem sie bewachenden Militär manifestiert.
Die Digitalisierung hat diese Rahmenbedingungen gesprengt. Die technologischen Innovationen der vergangenen Dekaden haben eine zweite Kategorie von Werten geschaffen: virtuelle Werte wie Daten, geistiges Eigentum, Bildung, Wissen, Vernetzung. Werte, die nicht direkt greifbar sind. Doch wenn von Daten als „new oil“ die Rede ist, dann deshalb, weil sie einem Konzern wie Facebook zu einem realen Marktwert von rund einer halben Billion Dollar verhelfen.
Diese virtuellen Werte bilden die digitale Infrastruktur unserer Gesellschaft. Jeder von uns bewegt sich darin mit seiner eigenen digitalen Identität. Beide – digitale Identitäten und digitale Infrastruktur – sind hoch angreifbar. Bereits sieben von zehn deutschen Unternehmen wurden in den vergangenen zwei Jahren Opfer von digitalen Angriffen wie Datendiebstahl, so die aktuelle Bitkom-Studie zum Wirtschaftsschutz.
Über 80 Prozent gehen davon aus, dass Cyberattacken künftig noch zunehmen. Unsere Vulnerabilität steigt im Internet der Dinge. Der wirtschaftliche Schaden ist enorm: Weltweit führten Cyberattacken nach Schätzungen von McAfee von 2018 zu jährlichen Kosten von circa 550 Milliarden Euro. Die gesellschaftlichen Auswirkungen ganz ausgenommen – etwa die Cambridge-Analytica-Affäre.
Kein Zweifel: Die Notwendigkeit geeigneter Sicherheitsmaßnahmen für Daten, Kommunikationskanäle und kritische Infrastrukturen steigt massiv. Doch wie können wir unsere digitale Souveränität schützen?
In der Politik herrscht eine gewisse Machtlosigkeit. Seit der Gesellschaftstheorie von Niklas Luhmann wissen wir, dass es „keine territorialen Grenzen mehr für Geld, Information, Bildung, Energie, Umweltzerstörung und Terrorismus“ gibt. Dennoch sind es immer noch vor allem traditionelle Mittel, mit denen die Politik die neuen Herausforderungen meistern will.
Das beginnt mit der Ausbildung der Entscheidungsträger. Sie kommen oft aus der Geschichts- oder Politikwissenschaft, sind Juristen oder Militärs. Diese Disziplinen basieren auf hierarchischen Strukturen und konventionellen Denkmodellen. Wenn dieses Denken von gestern auf Technologie von heute trifft, wird daraus keine Problemlösung von morgen. Im Gegenteil: Es begünstigt neue, globale Cyberrisiken wie das Verschweigen von Schwachstellen oder den Einbau von Backdoors, die auch Angreifer finden und missbrauchen.
Doch bereits davor fehlt es an einer Grundvoraussetzung: dem Bewusstsein in puncto Cyberrisiken. Sowohl in der Gesellschaft als auch bei Entscheidungsträgern ist dies häufig erschreckend unterentwickelt. Aber wer den Feind nicht kennt, ist sich selbst der größte Feind, schwächt sich und stärkt den Gegner. Nur ein entsprechendes Sicherheitsbewusstsein kann Sicherheit schaffen – das hat seit Jahrtausenden Bestand.
Gebraucht werden politische Entscheider, die mit dem nötigen IT-Know-how die digitale Transformation verstehen und aktiv gestalten. Stattdessen sehen wir häufig Behörden, die Hoheitsaufgaben an Technologiekonzerne outsourcen. In Zeiten, in denen das Konzept der Staatlichkeit parallel zur steigenden globalen Vernetzung erodiert, ist das gefährlich. Das Gefühl der Machtlosigkeit der Politik, ihre Unfähigkeit, richtige Antworten auf diese Entwicklungen zu geben, hat einen Anteil an einer zunehmend polarisierten Gesellschaft und dem Abwenden der Menschen von der Politik.
Wir müssen drei Tatsachen sehen:
Unseren digitalen Souveränitätsanspruch kann kein Nato-Draht schützen. Was wir brauchen, ist mehr Technologie. Nicht zur Abgrenzung, sondern zur kollaborativen Problemlösung in einer globalen Welt- und Tech-Gesellschaft.
Technologiekompetenz muss Einzug in die Politik halten. Politische Entscheider brauchen neue digitale Fähigkeiten. Der Bundestagsausschuss Digitale Agenda muss so wichtig werden wie der Außen- oder Haushaltsausschuss.
Politik funktioniert nur in Abstimmung mit anderen gesellschaftlichen Subsystemen. Die Herausforderungen der digitalen Welt verlangen mehr Vernetzung zwischen Politik und Wirtschaft. Nicht nur national, sondern weltweit.
EU-Kommissarin Margrethe Vestager fordert zu Recht eine gemeinsame europäische Sicherheitskultur – auf politischer Ebene und in der Industrie. Mehr Vernetzung ist auch seit sechs Jahren das Ziel der Munich Cyber Security Conference, die am Donnerstag stattfindet.
Mehr: Digitale Revolution – Diese Technologie könnte Passwörter überflüssig machen.
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.