Gastkommentar Europa braucht einen neuen Plan

Der Autor ist ehemaliger italienischer Ministerpräsident und Präsident des Instituts Jacques Delors.
Diese Krise übertrifft die Finanzkrise des Jahres 2008 bei Weitem. Daher müssen die Antworten auch kraftvoller und schneller als damals sein, damit sich das ökonomische und soziale Desaster nicht wiederholt, das seinerzeit auf die Krise folgte. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat von Anfang an ein Maximum getan, sehr viel mehr als damals: Für viele Länder wird der massive Ankauf von Staatsanleihen eine grundlegende Finanzierungsquelle sein. Die Zentralbank trägt aber schon jetzt eine große Last, weshalb wir eine zusätzliche Finanzierungsquelle brauchen. Wir brauchen eine schnelle, gemeinsame und solidarische Antwort der Regierungen der Euro-Zone.
Damit diese Antwort auf die Krise von allen betroffenen Ländern politisch akzeptabel ist, muss sie drei Prinzipien folgen:
Erstens: Sie darf nicht die Architektur der Europäischen Union untergraben und verändern. Es geht um eine Notsituation, wie es sie in der Dimension seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht gegeben hat. Eine so besondere und extrem ungewöhnliche Lage muss mit Ad-hoc-Instrumenten angegangen werden.
Zweitens: Die Antwort darf weder zu einer Vergemeinschaftung der bestehenden öffentlichen Verschuldung führen noch zu einer Gemeinschaftshaftung der neuen Schulden, die durch die politischen Entscheidungen jedes einzelnen Landes entstehen. Jedes Land muss verantwortlich bleiben für die eigene Verschuldung, mit der die vergangenen und künftigen politischen Maßnahmen finanziert werden. Daraus folgt als Konsequenz, dass die Ausgabe von Euro-Bonds, die in der Vergangenheit vorgeschlagen wurde, um die öffentliche Verschuldung zu vergemeinschaften, ausgeschlossen werden muss.
Drittens: Als Folge daraus müssten die gemeinsam mithilfe neuer Finanzinstrumente eingesammelten Mittel auf der Basis einer gemeinsam koordinierten Strategie ausgegeben werden: Man sammelt also gemeinsam Mittel und entscheidet gemeinsam, wie sie ausgegeben werden.
Ein neues Finanzinstrument
Auf der Basis dieser drei Prinzipien sieht unser Vorschlag so aus:
- Die Schaffung einer kleinen Ad-hoc-Institution oder besser noch einer kleinen Einrichtung innerhalb einer bereits bestehenden Institution, wie zum Beispiel der Europäischen Investitionsbank oder des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), um die gemeinsam beschlossene Politik als Antwort auf die Krise umzusetzen. Damit diese Einheit klein bleibt, die man „Special Health Emergency Arrangement (SHE)“ nennen kann, müsste sie auf die Dienste der anderen europäischen Institutionen zurückgreifen können und eng mit ihnen zusammenarbeiten.
- Diese SHE müsste einmalig einen Bond herausgeben, um Mittel einzusammeln – eine Anleihe, die wir „Special Issue European Security“ (Sies) nennen. 300 bis 400 Milliarden Euro könnten so über Anleihen mit einer Laufzeit von 30 bis 50 Jahren eingesammelt werden.
Dieses Sies-Instrument müsste, was die Garantien angeht, zu den gleichen Konditionen herausgegeben werden wie die Emissionen des Europäischen Stabilitätsmechanismus und könnte von der EZB aufgekauft werden im Rahmen ihres Anleihekaufprogramms (Quantitative Easing). Die Ressourcen des ESM könnten an die SHE transferiert werden, am besten in Form von Risikokapital, um effektiv die Krise zu bekämpfen. - Die auf diese Weise eingesammelten Mittel müssten ausgegeben werden auf der Basis von Strategien und Projekten, über die alle teilnehmenden Länder gemeinsam entscheiden. Diese Strategien müssten auf politischer Ebene koordiniert werden, wenn nötig mit einem Vetorecht für jedes Land, das mitmacht, oder auf Basis einer breiten qualifizierten Mehrheit. Dazugehören könnten sowohl Programme für öffentliche Investitionen, genehmigt durch die SHE, als auch laufende Ausgaben für das Gesundheitswesen oder temporäre Hilfen für Familien und Unternehmen, die von der Krise getroffen sind. Die SHE muss auf der Basis gemeinsam definierter Regeln verifizieren, ob die Mittel gut ausgegeben werden.
Schnell zu realisieren - Dieser Mechanismus würde nicht zu einer Erhöhung der Staatsverschuldung der einzelnen Länder führen. Die SHE entscheidet über die Ausgaben verbucht sie in ihrer Bilanz. Die nationalen und lokalen Regierungen müssten mit ihren Verwaltungen die vereinbarten Strategien der SHE umsetzen.
- Die SHE hätte eigenes Kapital, aber ihr Hauptvermögenswert bestünde in dem aktuellen Wert der Beiträge der beteiligten Länder während der Periode der Rückzahlung der ausgegebenen Papiere. Diese Beiträge wären vorab durch ein Abkommen zwischen den beteiligten Ländern fixiert und müssten proportional berechnet werden zu der Summe an Ressourcen, die zu Beginn aus jedem Land kämen. Eine Ausnahme wären die Ausgaben für konjunkturelle Investitionsprojekte der Länder. Für die müssten die Beiträge proportional zum Bruttoinlandsprodukt berechnet werden.
Dieser Vorschlag scheint uns der einzige zu sein, der von allen akzeptiert werden kann. Und er ist in kürzester Zeit zu realisieren. Es gibt drei Gründe, warum er für alle Länder der Euro-Zone von Vorteil wäre.
Erstens: Auch wenn einige Länder die aktuelle Notsituation mit ihrer eigenen Haushaltspolitik bewältigen können, können andere größere Schwierigkeiten haben, sich am Markt zu refinanzieren, vor allem wenn sich die internationalen Bedingungen markant verschlechtern. Eine gemeinsame Antwort auf die Krise, wie wir sie beschreiben, würde den Zusammenhalt der europäischen Länder stärken. Es wäre ein koordiniertes Vorgehen gegen diesen Schock, der alle trifft und nicht dem Verhalten eines einzelnen Landes geschuldet ist.
Keines der Länder war vor der Krise dabei, die Fiskalregeln in Europa zu verletzen. Mit unserem Vorschlag würde sich außerdem das Risiko verringern, dass einige Länder beginnen, anderswo nach Unterstützung zu suchen. Das würde die langfristigen Perspektiven der Europäischen Union schwächen.
Zweitens: Die Schwierigkeit, die einige Länder damit haben könnten, Schuldtitel zu begeben, würde die Rezession in der Euro-Zone verschärfen und die Wachstumsperspektiven für jedes Land verschlimmern.
Drittens: Der von uns vorgeschlagene Weg würde den Druck mindern, der im Moment auf der Europäischen Zentralbank lastet. Und er würde maßgeblich das Risiko schmälern, dass die Geldpolitik unerwünschte Konsequenzen für die Wirtschaft hat.
Die Voraussetzung für die Realisierung unseres Vorschlags – und das gilt für jeden anderen Vorschlag im Moment – ist ein gegenseitiges Verständnis zwischen den Ländern im Norden und im Süden Europas. Auf der einen Seite müssen alle verstehen, dass die Krise, die den Süden des Kontinents im Moment schlimmer trifft, nichts zu tun hat mit der exzessiven Anhäufung der Schulden.
Auf der anderen Seite müssen alle begreifen, dass eine gemeinsame Antwort nicht ein Hintertürchen sein kann, um klammheimlich eine Gemeinschaftshaftung für die Verschuldung einzuführen. Die Haftung muss in der Verantwortung der einzelnen Staaten bleiben. Und vor allem darf man keine kostbare Zeit verlieren, wie es zwischen 2008 und 2012 der Fall war.
Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass sich die Europäische Union derzeit in großer Gefahr befindet. Wenn Jacques Delors, einer der maßgeblichen Väter der europäischen Integration, sich meldet, um uns an unsere gemeinsame Verantwortung zu erinnern, heißt das: Nach der Finanz- und Flüchtlingskrise können wir uns keine Fehler mehr erlauben.
Die Institutionen der Gemeinschaft, die EU-Kommission und die Europäische Zentralbank, geführt von Ursula von der Leyen und Christine Lagarde, haben bisher schnell und effizient gehandelt. Jetzt liegt es an den Mitgliedstaaten, gemeinsam zu handeln, zu helfen, ohne sich zu entzweien.
Wenn Deutschland und Italien es schaffen, gemeinsame Entscheidungen zu treffen und den jeweils anderen Gesichtspunkt zu verstehen, so wie es das Anliegen unseres Vorschlags ist, so heißt das, dass die Hälfte des Weges zurückgelegt ist.
Der Autor war italienischer Premier. Seine Co-Autoren sind die Ökonomen Carlo Cottarelli und Giampaolo Galli, Gründer des „Osservatorio Conti Pubblici“ der Università Cattolica in Mailand. Der Text ist exklusiv für das Handelsblatt und „La Repubblica“ verfasst.
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