Gastkommentar Europa braucht technologische Autonomie

Marcus Berret ist Global Managing Director bei Roland Berger. Mit zwei weiteren Mitgliedern verantwortet er das weltweite Geschäft der Unternehmensberatung.
2020 war auf den ersten Blick für europäische Start-ups und Technologieunternehmen ein erfreuliches Jahr, trotz oder sogar wegen der Corona-Pandemie. Mit 41 Milliarden US-Dollar wurde so viel wie nie zuvor in diese Unternehmen investiert – das Sechsfache der 2010 eingesetzten Summe. Insbesondere die sogenannten Megarunden nahmen deutlich zu, also Finanzierungen mit einem Volumen von 100 bis 250 Millionen Dollar.
Lange Zeit war gerade die zu geringe Zahl an Megarunden die Achillesferse des europäischen Start-up-Ökosystems. Diese Entwicklung hat maßgeblich dazu beigetragen, dass es in Europa inzwischen mehr als 80 „Einhörner“ gibt, Start-ups mit einer Bewertung von mehr als einer Milliarde Euro. Das ist die gute Nachricht.
Die schlechte: Im selben Jahr wurde in anderen Ländern und Regionen ein Vielfaches an Kapital in Start-ups investiert. Allein die USA kommen auf 141 Milliarden Dollar, in Asien waren es 74 Milliarden Dollar. Und noch etwas sollte uns zu denken geben: Der Börsenwert der zehn größten amerikanischen Tech-Unternehmen ist zehnmal höher als die Marktkapitalisierung der Top Ten in Europa. Europas Rückstand ist nicht nur groß, er wächst auch jeden Tag weiter.
Dabei sind Start-ups schon heute ein zentraler Wirtschaftsfaktor. Allein in Deutschland arbeiten dort 415.000 Menschen, darüber hinaus sichern Start-ups indirekt 1,6 Millionen weitere Arbeitsplätze, insbesondere im Dienstleistungssektor – von einfacheren Tätigkeiten wie Reinigung oder Paketdiensten bis hin zu hochspezialisierten technischen Experten oder Rechtsanwälten.
Und das weitere Wachstumspotenzial ist enorm. Würde Deutschland bis 2030 das heutige Niveau der amerikanischen Start-up-Szene – gemessen am prozentualen Anteil der dort Beschäftigten an der Gesamtbeschäftigung – erreichen, wären 3,7 Millionen Menschen direkt in Start-ups beschäftigt. Damit dieses Potenzial Realität wird, muss die Politik jetzt die richtigen Weichen stellen.
Macron startet Initiative
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat die Notwendigkeit zum Handeln auf europäischer Ebene erkannt und im vergangenen Dezember die Initiative „Scale-up Europe“ gestartet. Die Initiative bringt rund 200 führende Köpfe der europäischen Technologielandschaft zusammen: Gründerinnen und Gründer, Investoren, Wissenschaftler, politische Experten und Vertreter von Großunternehmen. Ihr gemeinsames Ziel: entschlossen den Weg in Richtung digitale Autonomie Europas gehen und bis 2030 zehn europäische Tech-Giganten mit einem Börsenwert von jeweils mehr als 100 Milliarden US-Dollar schaffen.
Konkrete Handlungsempfehlungen finden sich in der Studie: „Scale-up Europe. How to Build Global Tech Leaders in Europe?“ Es sind vor allem Maßnahmen zur Verbesserung des Investitionsumfelds für europäische Start-ups, zur zielgerichteten Qualifizierung von Mitarbeitern und einer besseren Kooperation zwischen Start-ups und europäischen Industrieunternehmen.
Mitte Juni konnten wir die Handlungsempfehlungen dem französischen Präsidenten und zahlreichen europäischen Digitalministern in Paris vorstellen und mit ihnen diskutieren. Die Umsetzung der Empfehlungen wird ein Schwerpunkt der französischen EU-Ratspräsidentschaft in der ersten Jahreshälfte 2022 sein.
Die Scale-up Europe zugrunde liegende Idee eignet sich als Blaupause für viele weitere Sektoren und Zukunftstechnologien in Europa. Europa hat zweifellos große Stärken: eine enorme technische, wissenschaftliche und wirtschaftliche Substanz, hohe Innovations- und Industrialisierungskompetenz, einen riesigen Binnenmarkt mit 500 Millionen Verbrauchern, hochqualifizierte Menschen, eine vielfältige Kultur.
Europas Rückstand wird größer
Diese Stärken bilden die Basis für zahlreiche wirtschaftliche Erfolge der jüngeren Vergangenheit, etwa in den Bereichen Biotechnologie und regenerativer Energiegewinnung. Aber es gibt noch viel zu tun. In vielen Schlüsseltechnologien hat sich Europas Rückstand zu den führenden Nationen – und damit auch die Abhängigkeit von diesen Ländern – in den vergangenen Jahren vergrößert: ob in der Chip- und Mikro-Elektronik, der Batterietechnologie, bei wichtigen Digitaltechnologien wie der Cloud, bei Künstlicher Intelligenz oder Quanten-Computing, intelligenten Mobilitätssystemen oder in der Luft- und Raumfahrttechnik.
So erhöhte sich beispielsweise die Anzahl der Patente für digitale Technologien in den vergangenen zehn Jahren in China um fast 600 Prozent, in den USA um 100 Prozent, in Europa waren es lediglich 73 Prozent. Eine führende Position in diesen Schlüsseltechnologien ist aber unerlässliche Voraussetzung für den klimaneutralen Umbau unserer Gesellschaft, für unseren zukünftigen Wohlstand und damit auch für die langfristige soziale Stabilität des Kontinents.
Sowohl auf europäischer wie auf nationaler Ebene wurde deshalb in den letzten Monaten schon einiges auf den Weg gebracht. So stellte die EU-Kommission im Sommer 2020 ihre Wasserstoffstrategie vor: Bis 2030 soll die Kapazität für die Produktion von grünem Wasserstoff auf 40 Gigawatt steigen. Auch die deutsche Regierung hat ein Programm verabschiedet, nach dem neun Milliarden Euro in Wasserstoffanlagen investiert werden sollen.
Im Bereich der Halbleitertechnologie haben sich 17 EU-Länder Ende 2020 vorgenommen, in den nächsten zwei bis drei Jahren 145 Milliarden Euro in die Wertschöpfungskette der europäischen Halbleiterindustrie zu investieren. Mit Blick auf die Weiterentwicklung der Batterietechnologie gibt es auf europäischer Ebene inzwischen zwei große Konsortien, in die die beteiligten Staaten rund sechs Milliarden Euro investieren.
Es werden gewaltige Mittel benötigt
Aber all diese Initiativen und Fördersummen können nur der Anfang einer breiten Bewegung sein. Aus meiner Sicht sind dabei vier Erfolgsfaktoren von besonderer Bedeutung: Erstens wird Europa diesen Weg nur gemeinsam schaffen. Einzelne Länder oder gar Unternehmen sind viel zu klein, um entscheidend voranzukommen.
Zweitens werden gewaltige Mittel benötigt. Das heißt einerseits: Schluss mit der Förderung nach Gießkannenprinzip und nationaler Proporzlogik. Und andererseits: In jenen industriellen Sektoren, in denen zukünftig die Musik spielt, heißt es klotzen statt kleckern.
Drittens sollte Geschwindigkeit Vorrang vor Perfektion haben, weil Europas Rückstand gegenüber den USA und Asien jeden Tag größer wird. Viertens müssen wir alle unsere Einstellung ändern – nicht nur die Politik oder die Unternehmen. Die Bewahrung des Status quo hatte zuletzt in den meisten Lebensbereichen Vorrang vor neuen Ideen und Risikobereitschaft. Das muss sich ändern.
Die Bekämpfung der Covid-Pandemie kostet uns viel Kraft. Aber sie zeigt auch, wie schnell wir über Jahrzehnte hinweg erworbene Gewohnheiten überdenken müssen – und können. Europas Umgang mit der Covidkrise demonstriert die Bedeutung schnellen gemeinsamen Handelns in Verbindung mit den richtigen Technologien. Diese einschneidende Erfahrung sollte in den nächsten Jahren Grundlage für die dynamische technologische und wirtschaftliche Entwicklung Europas sein.
Der Autor: Marcus Berret ist Global Managing Director bei Roland Berger. Mit zwei weiteren Mitgliedern verantwortet er das weltweite Geschäft der Unternehmensberatung.
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