Gastkommentar: Europa braucht wieder mehr Ausdauer und Mut

Friedrich Merz ist Bundesvorsitzender der CDU und Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
Vor dreißig Jahren, am 1. November 1993, wurde im Vertrag von Maastricht mit den drei Säulen „Europäische Gemeinschaften“, „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ und „polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit“ das Fundament für die heutige Europäische Union (EU) gelegt.
Wir können ungehindert von Grenzen durch weite Teile Europas reisen und in vielen EU-Ländern mit einer einheitlichen Währung zahlen. Für Arbeitnehmer besteht Freizügigkeit, der Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr kann ungehindert in Europa fließen.
Doch die aktuelle Weltlage zeigt deutlich: Unsere europäische Friedens- und Freiheitsordnung wird herausgefordert. Deshalb müssen wir Europa gerade in diesen stürmischen Zeiten krisen- und zukunftsfest machen.
Die EU darf sich nicht im regulatorischen Klein-Klein verlieren
Unsere größte Stärke ist der gemeinsame Wirtschaftsraum, das Wohlstandsversprechen für nahezu eine halbe Milliarde Europäer. Damit dies weiterhin so bleibt, darf sich die EU nicht im regulatorischen Klein-Klein verlieren, sondern muss sich auf ökonomische Rahmenbedingungen fokussieren, in denen Unternehmen entstehen, wachsen und erfolgreich sein können.
Derzeit werden die Betriebe mit immer neuen Belastungen aus Brüssel konfrontiert: Lieferkettengesetz, Nachhaltigkeitsberichtserstattung, Gebäudeenergieeffizienzgesetz und vieles andere mehr.
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Eine Vertiefung des Binnenmarkts sollte damit beginnen, dass alle Vorhaben, die neue Bürokratie verursachen, zunächst einmal gestoppt werden – ein Belastungsmoratorium ist überfällig. Europa erstickt sonst an seiner eigenen Bürokratie.
Der Angriffskrieg Russlands hat uns gezeigt, dass Europa auch seine Energieversorgung der Zukunft nur gemeinsam sichern kann. Dazu müssen wir Synergien beim Import, in der Forschung und bei Energiepartnerschaften nutzen, um zu einer Energieunion mit einem europäischen Energiebinnenmarkt zu kommen.
Auch in der digitalen Welt muss Europa zu einem „Power-House“ werden: durch eine echte Digital- und Datenunion mit modernem Wettbewerbsrecht und hochklassiger digitaler Infrastruktur.
Europa muss seine industriepolitische Souveränität stärken
Schließlich müssen wir die Kapitalmarkt- und Bankenunion weiterentwickeln. Diese Vertiefung des Binnenmarktes kann aber nur auf der Basis eines soliden und verlässlichen Haushaltens gelingen, eine Schuldenunion darf es nicht geben. Sie wäre vertragswidrig, ökonomisch falsch und politisch in höchstem Maße gefährlich.
Nicht zuletzt ist die industriepolitische Souveränität Europas von essenzieller Bedeutung. Eine europäische Rohstoffstrategie kann die Abhängigkeiten bei kritischen Rohstoffen reduzieren und Rohstoffpartnerschaften mit verlässlichen Partnern in Lateinamerika, Afrika und Asien ausbauen.
Bei der Versorgung mit Schlüsseltechnologien muss Europa seine Wertschöpfungsketten diversifizieren. Wirtschaftliche Sicherheit erringen wir nicht durch Abkopplung, sondern durch Minderung von Risiken.
Weitere Freihandelsabkommen müssen zügig verhandelt, abgeschlossen und ratifiziert werden, vor allem mit den USA und Südamerika. Nur so kann ein fairer und freier Handel erhalten bleiben.
Durch die Krisen in und um Europa ist aber vor allem unsere äußere und innere Sicherheit bedroht. Es muss klar sein: Den offenen Schengen-Raum als große Errungenschaft der europäischen Einigung können wir nur erhalten, wenn die Sicherheit in Europa im umfassenden Sinn gewährleistet wird.
Wir brauchen sehr schnell ein neues gemeinsames europäisches Asylsystem, das den Schutz der EU-Außengrenzen in den Mittelpunkt stellt. Die Europäische Grenzschutzagentur Frontex muss schließlich zu einer echten Grenzpolizei und Küstenwache mit hoheitlichen Befugnissen ausgebaut und daher personell aufgestockt werden.
Bis zu einem funktionierenden Außengrenzschutz müssen zeitlich Grenzkontrollen an den Binnengrenzen möglich bleiben.
Über allem steht die dringende Notwendigkeit, auch in der Außen- und Sicherheitspolitik zügig voranzukommen. Die Vielstimmigkeit Europas zu den Terroranschlägen in Israel hat gezeigt, wie weit wir davon noch entfernt sind.






Dabei muss das Ziel doch lauten, nicht nur in der Analyse der Lage, sondern auch in den Konsequenzen daraus bis hin zum Einsatz der Streitkräfte in Europa gemeinsam zu handeln.
Der Maastricht-Vertrag hat bewiesen, dass wir in Europa mit Mut und Ausdauer zu Großem fähig sind. Beides braucht es auch jetzt wieder, um Frieden und Freiheit, Sicherheit und Wohlstand nicht nur für uns, sondern auch für unsere Kinder und Enkel in Europa sicherzustellen.
Der Autor:
Friedrich Merz ist Bundesvorsitzender der CDU und Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.





