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Gastkommentar – Global ChallengesWie die Globalisierung eine Zukunft hat

Die künftige Regulierung des internationalen Handels wird darüber entscheiden, ob gesellschaftliche Spannungen entschärft werden können, analysiert Renate Schubert. 13.04.2023 - 10:36 Uhr Artikel anhören
Foto: Handelsblatt

Während der Covidpandemie mussten wir zur Kenntnis nehmen, dass bestimmte Medikamente nicht mehr in Europa hergestellt werden und bei uns erhebliche Versorgungsengpässe auftraten. Die Globalisierung mit ihren weltumspannenden Lieferketten, so schien es, setzte uns schwer zu. Der Krieg in der Ukraine stellte das Modell einer vorrangig an komparativen Kostenvorteilen orientierten Entwicklung zusätzlich infrage. Die Parole lautete: Deglobalisierung statt Globalisierung.

Faktisch umgesetzt wurde dies aber wohl nicht: Der Welthandelsorganisation (WTO) zufolge wuchs der internationale Handel im vergangenen Jahr gegenüber 2021 um 3,5 Prozent und damit stärker als vorhergesagt. Für das laufende Jahr erwartet die WTO nicht zuletzt wegen des Subventionsstreits zwischen den USA und der EU sowie der handelspolitischen Friktionen zwischen den USA und China zwar nur ein Plus von einem Prozent. Neuere politische Entwicklungen legen aber nahe, dass sich wichtige Akteure wieder auf die Bedeutung von Handel und Globalisierung für Wohlstand und Frieden besinnen.

So haben sich die EU und die USA im vergangenen Monat beim Streit über Subventionen für grüne Technologien aufeinander zubewegt und wollen ein Abkommen über kritische Mineralien für Autobatterien aushandeln. Eine entsprechende Vereinbarung dürfte gewährleisten, dass europäische Firmen trotz der amerikanischen Steuererleichterungen für grüne Technologien nicht diskriminiert werden und im produktiven Wettbewerb mit Firmen aus den USA bleiben.

Sorge vor sinkendem Wohlstand

Äußerungen des neuen chinesischen Premierministers Li Qiang deuten darauf hin, dass China weiter eine wirtschafts- und technologiefreundliche Politik betreiben will. Angesichts der schrumpfenden Bevölkerung in der Volksrepublik dürfte gerade dem Pragmatiker Li die Bedeutung globaler Wirtschaftsbeziehungen für Wachstum und Wohlstand im eigenen Land bewusst sein. Hinzu kommt: Vor allem in Ländern mit vergleichsweise niedrigem Pro-Kopf-Einkommen wie etwa Indonesien und Vietnam wächst die Sorge, dass eine verstärkte Deglobalisierung das erreichte Wohlstandsniveau senken würde.

In der Konsequenz müssten sich die dort lebenden Menschen als Verlierer fühlen und die Verschlechterung ihrer ökonomischen Möglichkeiten als Aufkündigung der „Gesellschaftsverträge“ mit den jeweiligen Regierungen interpretieren. Das wiederum würde die oft ohnehin schon schwierige Regierbarkeit der Länder infrage stellen. Die moderne Theorie der Gesellschaftsverträge entstand im 20. Jahrhundert und geht vor allem auf den US-amerikanischen Philosophen John Rawls zurück: Im Kern geht es darum, dass die Bürgerinnen und Bürger eines Landes mit ihrer Regierung eine Art implizites Abkommen schließen, dem zufolge sie gewisse Rechte an den Staat abgeben und dafür quasi als Gegenleistung äußere und innere Sicherheit sowie gute Lebensbedingungen erhalten.

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Mittlerweile wird immer deutlicher, dass die Tragfähigkeit solcher Gesellschaftsverträge gerade in Krisenzeiten vor allem vom Vorhandensein angemessener ökonomischer Bedingungen abhängt. Haben größere Teile der Bevölkerung den Eindruck, ihre wirtschaftlichen Mittel reichten nicht aus, um einen angemessenen Lebensstandard zu sichern, führt dies zum Auseinanderdriften der Bevölkerungsgruppen und zur Erosion des Gesellschaftsvertrags.

Abbau gesellschaftlicher Spannungen

Gelingt es hingegen gerade auch in Krisenzeiten, die ökonomische Situation der Bevölkerung zu stabilisieren, das wirtschaftliche Gefälle zwischen verschiedenen Gruppen zu verkleinern und Aufstiegsperspektiven zu bieten, leistet das einen entscheidenden Beitrag zur positiven Entwicklung von Gesellschaften. Diese Einsicht scheint sich nach der Covidpandemie, die gerade die einkommensschwächeren Gruppen in eine noch prekärere Lage gebracht hat, bei immer mehr politischen Entscheidungsträgern durchzusetzen.

Dies gibt der Globalisierung und der mit ihr verbundenen Chance, das Wohlfahrtsniveau der Länder zu erhöhen, neuen Auftrieb – allerdings mit einer wichtigen Einschränkung: Es kann künftig nicht mehr um Globalisierung „um jeden Preis“ gehen. Stattdessen brauchen wir eine neue Form der Globalisierung, verbunden mit einer bewussteren Prioritätensetzung. So müsste beispielsweise entschieden werden, welche Industrien für ein Land wichtig sind und wo man gegebenenfalls auch bereit ist, höhere Preise für einheimisch produzierte Güter zu zahlen.

Darüber hinaus ist eine stärkere Orientierung an Werten von Bedeutung, etwa einer nachhaltigen ökologischen Entwicklung, der Einhaltung von Menschenrechten sowie akzeptablen Arbeits- und Lebensbedingungen. Der Ukrainekrieg verdeutlicht, wie wichtig auch internationale Solidarität ist. Die Phase der unkonditionierten Globalisierung dürfte also vorbei sein. Gelingt es, eine neue Form werteorientierter Globalisierung umzusetzen, dürften wir alle davon profitieren – und zwar nicht nur in Form höherer Einkommen, sondern vor allem auch durch den Abbau gesellschaftlicher Spannungen.

Die Autorin: Renate Schubert ist Professorin für Nationalökonomie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich und am Singapore ETH-Centre.

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