Gastkommentar: Ist die griechische Sechstagewoche ein Vorbote für längere Arbeitszeiten in der EU?

Seit wenigen Tagen dürfen in Griechenland Arbeitgeber bestimmter Branchen ihren Angestellten vorschlagen, einen sechsten Tag in der Woche zu arbeiten – mit einem großzügigen Lohnaufschlag von 40 Prozent. Diese Änderung kommt für mich aus mehreren Gründen überraschend. Erstens scheint sie dem internationalen Trend zur Förderung des Gleichgewichts zwischen beruflichen Verpflichtungen und Privatleben sowie zur Flexibilisierung der Arbeitsgestaltung zu widersprechen.
Zweitens arbeiten die Griechen im Durchschnitt mit 38,8 Stunden pro Woche bereits jetzt mehr als andere Europäer – in der Europäischen Union (EU) liegt die Arbeitszeit bei durchschnittlich 36,1 Stunden. Drittens hat sich die aktuelle griechische Regierung vorgenommen, sich für die Rechte und die Förderung von Frauen einzusetzen, einer Gruppe, die von längeren, weniger flexiblen Arbeitszeiten wohl eher negativ betroffen sein wird. Bisherige Erkenntnisse legen nahe, dass kürzere Wochenarbeitszeiten und ein ausgewogener Alltag zu höherer Mitarbeiterzufriedenheit, besserer Gesundheit und letztlich höherer Produktivität beitragen.
Das Grundproblem besteht in der niedrigen Geburtenrate und einer alternden Bevölkerung
Wie erklärt sich also dieser Politikwechsel? Wie zahlreiche andere Länder mit hohem Einkommen hat auch Griechenland mit einem akuten Arbeitskräftemangel zu kämpfen. Auch wenn sich die Situation dort aufgrund der erheblichen Abwanderung von Arbeitskräften nach der Finanzkrise 2010 besonders schlimm präsentiert (etwa 500.000 Menschen – fünf Prozent der derzeitigen Bevölkerung – haben das Land verlassen), steht man mit diesem Problem international nicht allein da. Das Grundproblem besteht in der niedrigen Geburtenrate und einer alternden Bevölkerung – eine „tickende Zeitbombe.
» Lesen Sie auch: In Griechenland tobt ein ideologischer Klassenkampf um die Sechstagewoche
Wie sollten die fortgeschrittenen Volkswirtschaften dieses Problem bewältigen? Vier Möglichkeiten bieten sich an:
Die erste besteht darin, die Automatisierung voranzutreiben, in der Annahme, dass Maschinen, Roboter und Künstliche Intelligenz irgendwann die fehlenden Arbeitskräfte ersetzen können. Allerdings kann nicht jede Arbeit von einer Maschine oder einem großen Sprachmodell erledigt werden. Wir brauchen immer noch Menschen, um viele der unattraktivsten, gering qualifizierten Jobs im Baugewerbe oder in der Lebensmittelindustrie und im Gastgewerbe zu besetzen.
Höhere Löhne sind wenig hilfreich, denn sie führen letztlich zu höheren Verbraucherpreisen
Die zweite Option besteht darin, die Entlohnung der Beschäftigten zu erhöhen. Die Grundlagen der Wirtschaftswissenschaft lehren uns, dass die Preise (in diesem Fall die Löhne) steigen, wenn die Nachfrage das Angebot übersteigt. Höhere Löhne führen jedoch letztlich zu höheren Verbraucherpreisen, und das ist in der Regel unpopulär, insbesondere in einer Zeit, in der die Inflation ein Hauptthema ist.
Die dritte Möglichkeit wäre, von den Erwerbstätigen zu verlangen, mehr zu arbeiten, wie es Griechenland jetzt getan hat. Dieser Schritt scheint zwar dem allgemeinen Trend zu weniger Wochenarbeitsstunden zuwiderzulaufen, unterscheidet sich aber in Wirklichkeit nicht so sehr von der Anhebung des Renteneintrittsalters, wie sie mehrere andere Länder wie Dänemark, Frankreich und Deutschland für notwendig erachtet haben. In beiden Fällen erwiesen sich diese politischen Änderungen bei den Beschäftigten als höchst unpopulär, und in beiden Fällen haben die Menschen klar zum Ausdruck gebracht, lieber auf das höhere Einkommen verzichten zu wollen, als mehr als bisher zu arbeiten.
Bleibt noch die vierte Option, nämlich die Erhöhung des Arbeitskräfteangebots durch kontrollierte, legalisierte Einwanderung. In Regionen, die mit Flüchtlingskrisen und illegaler Einwanderung zu kämpfen haben, ließen sich mit einer wohlkonzipierten Einwanderungspolitik zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Derzeit scheint eine derartige Politik jedoch nicht infrage zu kommen. Angesichts geopolitischer Fragmentierung und der Sorge um die nationale Sicherheit schließen die Länder zunehmend ihre Grenzen und wenden sich nach innen.
Doch es gibt noch eine fünfte Möglichkeit, nämlich, dass die Menschen in den reicheren Ländern Konsum und Wachstum zurückschrauben und von den Früchten der Arbeit leben, die sie zu leisten bereit sind. Das würde ihnen das angestrebte Gleichgewicht zwischen Beruf und Privatleben ermöglichen und eine nachhaltige Zukunft sichern. Doch bisher sind nur wenige bereit, diesen Kompromiss einzugehen.
Um ihre derzeitige Lebensqualität zu erhalten, werden die Menschen in Ländern mit hohem Einkommen entweder ihre Grenzen für neue Zuwanderer öffnen oder mehr arbeiten müssen. Angesichts der aktuellen globalen Spannungen scheint das Pendel in Richtung mehr Arbeit auszuschlagen, sei es durch eine Anhebung des Rentenalters oder eine längere Arbeitswoche. Griechenland ist möglicherweise eher Trendsetter als Trendbrecher.


Die Autorin:
Pinelopi Koujianou Goldberg, ehemalige Chefökonomin der Weltbankgruppe, ist Professorin für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Yale.
Mehr: Warum eigentlich schafft Griechenland die Einführung einer Sechstagewoche und Deutschland nicht?





