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Gastkommentar Kapital und Arbeit versöhnen

Unternehmer und abhängig Beschäftigte sollten eine „Solidargemeinschaft“ bilden, forderte einst der Nationalökonom Oswald von Nell-Breuning. Michael Jäckel fragt: Ist das noch aktuell?
22.08.2021 - 11:35 Uhr Kommentieren
Prof. Michael Jäckel ist Präsident der Universität Trier. Quelle: Youtube/Uni Trier
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Prof. Michael Jäckel ist Präsident der Universität Trier.

(Foto: Youtube/Uni Trier)

Nordrhein-Westfalens Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann wird der Stoßseufzer zugeschrieben: „Ach, hätte ich doch heute einen Nell-Breuning, den ich um Rat fragen könnte.“ Doch den Jesuitenpater, Wirtschaftswissenschaftler und Politikberater Oswald von Nell-Breuning kann er nicht mehr konsultieren.

Der Ökonom starb am 21. August 1991 im biblischen Alter von 101 Jahren. Heute scheint der „Nestor der katholischen Soziallehre“ weitgehend vergessen zu sein – obwohl zahlreiche Straßen und Schulen nach ihm benannt sind und seine Geburtsstadt Trier alle zwei Jahre den Oswald-von-Nell-Breuning-Preis vergibt. Anlässlich des 30. Todestages stellt sich die Frage: Ist Oswald von Nell-Breuning ein Mann von gestern, oder geht er uns auch heute noch etwas an?

Er war geprägt von der christlichen Sozialethik – und sollte sie im Laufe seines Lebens selbst prägen, etwa mit der durchaus modern anmutenden Forderung, Arbeitnehmer müssten „gleichberechtigte Partner“ der Arbeitgeber sein. Ihre Wurzel hat diese Sozialethik in der 1891 von Papst Leo XIII. veröffentlichten Sozialenzyklika „Rerum Novarum“ („Über die neuen Dinge“), dem Versuch der katholischen Kirche, die marxistische Ideologie des Klassenkampfs mit einem Gegenkonzept zu widerlegen.

Der heutigen Kritik des Neoliberalismus vergleichbar wird in dem Dokument mit Blick auf die Wirtschaft das „freie Spiel der Kräfte“ für gescheitert erklärt, und Hungerlöhne der Industriearbeiter werden als „großes Verbrechen“ angeprangert, das „um Rache zum Himmel schreit“.

Rerum Novarum ließ Leo XIII. nicht nur als „Arbeiterpapst“ in die Geschichte eingehen, der Text gilt auch als „Mutter“ aller späteren „Sozialenzykliken“ – beispielsweise der 1931 von Pius XI. vorgelegten Enzyklika „Quadragesimo anno“ („Im vierzigsten Jahr“), an der Nell-Breuning bereits maßgeblich mitwirkte. Im Zentrum steht hier die Forderung nach der „Sozialbindung des Eigentums“. Dieses katholische Postulat dürfte nicht wenige christlich-soziale Abgeordnete des Parlamentarischen Rats 1949 bewogen haben, der damals sehr umstrittenen, aber bis heute gültigen Formulierung im Grundgesetzartikel 14 zuzustimmen: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“

Dieses allgemeine Credo wandte Nell-Breuning, in der Zeit des Nationalsozialismus mit Schreib- und Publikationsverbot belegt, nach dem Zweiten Weltkrieg auf konkreten Politikfeldern an – und zwar in vielfältiger Weise. So sprach er sich vehement für die Einheitsgewerkschaft aus, da sie am besten geeignet schien, die Interessen der Arbeitnehmer gegenüber Politik und Arbeitgebern durchzusetzen. Nell-Breuning kämpfte gegen das Wiederaufleben der Richtungsgewerkschaften. Lange Zeit gehörte er zu den wichtigsten Beratern des Deutschen Gewerkschaftsbunds.

Nell-Breuning beriet auch die Autoren des Godesberger Programms

Die paritätische Mitbestimmung der Arbeitnehmer war ihm ein Kernanliegen, um die Entscheidungsmacht in Großunternehmen zu verändern. Mit zahlreichen Artikeln lieferte er sozialethische Begründungen für dieses Modell. Da er die Arbeiterschaft in den industriellen Kapitalismus integrieren wollte, wirkt es nur konsequent, dass Nell-Breuning auch die Autoren des Godesberger Programms intensiv beriet, mit dem sich die SPD 1959 von der Klassen- zur Volkspartei wandelte – ein Status, um den die Sozialdemokraten nun seit geraumer Zeit bangen. Der Jesuitenpater bezeichnete das Programm seinerzeit als „kurz gefasstes Repetitorium der katholischen Soziallehre“.

Nell-Breunings Einfluss auf die Geschichte der Bundesrepublik lässt sich auch daran ablesen, dass er die Politik der heute von Laumann geführten Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft, des Sozialflügels der CDU, entscheidend prägte. Vertreter dieses Flügels schafften es in CDU/CSU-geführten Bundes- und Landesregierungen meist an die Spitze des Arbeits- und Sozialministeriums. Der prominenteste von ihnen, Norbert Blüm, verehrte Nell-Breuning fast wie einen „Heiligen“ – wohl auch deshalb, weil der Jesuitenpater ein anerkannter Ökonom war, der 17 Jahre lang im Wissenschaftlichen Beirat des Bundeswirtschaftsministeriums saß.

Sicher: Oswald von Nell-Breuning war ein Mann des Industriezeitalters. Seine gut 1800 veröffentlichten Texte schrieb er natürlich nicht mit dem Laptop, sondern auf der Schreibmaschine. Ist er in unserer schnelllebigen Zeit des Übergangs von der analogen Produktion zur digitalen Plattformwirtschaft deshalb eine anachronistische Figur? Das kann mit Fug und Recht bezweifelt werden. Den Wandel des Verhältnisses von Arbeit und Freizeit beispielsweise erkannte Nell-Breuning, lange bevor die heute oft zitierte „Work-Life-Balance“ vielen zum Bedürfnis wurde. Sein frühes Plädoyer, nicht nur Erwerbsarbeit als identitätsstiftend zu betrachten, wirkt hochaktuell.

Die Forderung nach einem Investivlohn ist hochaktuell

Und auch Nell-Breunings Eintreten für den Investivlohn – ein Teil des Arbeitsentgelts wird nicht ausgezahlt, sondern in Beteiligungen am Unternehmen umgewandelt – ist alles andere als aus der Zeit gefallen. Mitarbeiteraktien etwa sind heute in vielen Fällen Teil des Vergütungssystems. Gerade in der Start-up-Szene gelten Mitarbeiterbeteiligungen als wichtiges Instrument, um hochqualifizierte Talente zu gewinnen. Erst jüngst haben Bundestag und Bundesrat das „Fondsstandortgesetz“ verabschiedet, wonach Anteile an innovativen Unternehmen steuerlich attraktiver gestaltet werden sollen.

Doch jenseits aller Aktualität: Vom Jesuitenpater Oswald von Nell-Breuning lernen heißt einfach auch undogmatisches Denken lernen. So setzte er sich beispielsweise intensiv mit dem zweiten „großen Sohn“ der Stadt Trier auseinander: Karl Marx. Natürlich lehnte Nell-Breuning den von Marx propagierten Klassenkampfgedanken ebenso ab wie dessen Angriffe auf das Privateigentum an Produktionsmitteln. In einer Zeit, in der die katholische Kirche Marxismus meist pauschal als „Teufelszeug“ abqualifizierte, setzte Nell-Breuning aber ganz andere Akzente.

Plädoyer für eine „Solidargemeinschaft“ von Kapital und Arbeit

Es sei bedauerlich, formulierte er etwa mit Blick auf Marx’ Analyse, „dass diese im Wesentlichen zutreffende Zergliederung und Entlarvung der kapitalistischen Klassengesellschaft nicht von einem christlichen Sozialwissenschaftler unter dem Antrieb christlicher Liebe, christlichen Gerechtigkeits- und Wahrheitssinnes geleistet worden ist“, sondern „einem Atheisten und Materialisten vorbehalten“ blieb.

Für den Wirtschaftswissenschaftler Nell-Breuning, der sich Zeit seines Lebens für eine „Solidargemeinschaft“ von Kapital und Arbeit einsetzte, die zu einer gerechteren Einkommens- und Vermögensverteilung führen sollte, blieb der Ökonom Karl Marx stets ein geachteter „großer Gegner“.

1977 besuchte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt Nell-Breuning an dessen Wirkungsstätte in Sankt Georgen. Das Gespräch dauerte viel länger als geplant. Als der Jesuit Erhard Kunz schließlich anklopfte und die Tür des Wohn-, Arbeits- und Schlafzimmers öffnete, saßen Schmidt und Nell-Breuning im Dunkeln. Kunz knipste das Licht an, Schmidt erhob sich und zwinkerte verschmitzt mit den Augen, als wollte er sagen: „Ein so erhellendes Gespräch habe ich schon lange nicht mehr geführt.“

Der Autor: Prof. Michael Jäckel ist Präsident der Universität Trier.

Mehr: Unternehmen im Vergleich: Wie sich Mitbestimmung auf die Rendite auswirkt

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