Gastkommentar Nachhaltigkeit ist der neue Investmentstandard

Die Autorin ist Distinguished Affiliated Professor an der Technischen Universität München, an der sie von 2001 bis 2020 Inhaberin des Lehrstuhls für Entrepreneurial Finance war. Sie ist Mitglied des Präsidiums der acatech – Deutsche Akademie für Technikwissenschaften und des Boards des Institute for Advanced Study (IAS) in Princeton. In der Wirtschaft gehört sie den Aufsichtsräten von Linde und MunichRe sowie den Advisory Boards von Techem, Lakestar und Investcorp an. Außerdem engagiert sie sich als Investorin in junge Wachstumsunternehmen.
Finanz- und Realwirtschaft sind keine getrennten Welten. Der Kapitalmarkt kann vielmehr Motor beziehungsweise Transmissionsriemen des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels sein, weil er an einem elementaren Bedürfnis der Unternehmen ansetzt: ihrer Finanzierung.
Gleichzeitig nehmen Kapitalmarkt-Akteure ökologische und soziale Fragen immer stärker in den Blick. Nachhaltigkeit – Environment, Social und Governance (ESG) – wird zu einem entscheidenden Kriterium. Seit diesem Mittwoch etwa gilt in der Europäischen Union eine Offenlegungsverordnung, in deren Zentrum nachhaltige Aspekte der Finanzprodukte und mehr Transparenz für Anleger stehen.
Eine kluge ESG-Strategie, daran besteht kein Zweifel, könnte die Position Europas und der USA im geopolitischen Ringen mit dem Rivalen China stärken. Denn schon wegen der epochalen Herausforderung des Klimawandels werden Nachhaltigkeitskriterien in den kommenden Jahren einen beschleunigten Umbau internationaler Kapitalanlagen auslösen.
Das belegt auch der Brief, den Larry Fink Ende Januar an die Vorstandsvorsitzenden der größten Konzerne geschickt hat. Darin verweist der Chef des weltweit bedeutendsten Vermögensverwalters Blackrock auf die tief greifenden Auswirkungen, die der Klimawandel für die Bepreisung von Risiken und Vermögenswerte haben wird. Fink ruft Nachhaltigkeit zum neuen Investmentstandard aus. Außerdem erleben wir, dass sich zum Beispiel in den Vereinigten Staaten ESG-Aktivisten als strategische Herausforderer renditeorientierter Finanzmarktakteure in Stellung bringen.
Nun verzeichnen beispielsweise Nachhaltigkeitsfonds schon seit Jahren ein starkes Wachstum. Gerade in Kontinentaleuropa konnten sich einzelne Unternehmen bereits Meriten erwerben. Man verfolgte schon länger den Ansatz, Bedürfnisse verschiedener Anlegergruppen zu berücksichtigen.
Auch in einzelnen Staaten gibt es immer mehr Nachhaltigkeitsvorschriften. Eine grundsätzliche Verhaltensveränderung wurde jedoch erst ausgelöst, nachdem diese Erweiterung des Beurteilungsschemas von Unternehmen auch im Anforderungskatalog der Investoren angekommen war.
Doch wie bei vielen Dingen steckt auch hier der Teufel im Detail. Denn will ein Unternehmen dem neuen Trend gerecht werden, eröffnet sich ein komplexes Feld: So ist beispielsweise zu unterscheiden zwischen der ESG-konformen Ausrichtung eines Unternehmens zur Vermeidung von Risiken, der Produktion ESG-bezogener Produkte für Kunden und der Ausrichtung des Unternehmens an ESG-Zielen als Selbstzweck. Klar dürfte jedenfalls sein, dass Nachhaltigkeitskriterien in der Wettbewerbsstrategie der Unternehmen eine zunehmend wichtige Rolle spielen.
Normendschungel belastet Unternehmen
Allerdings sehen sich Unternehmen, die entweder schon am Kapitalmarkt sind, sich auf ihn vorbereiten oder aber, wie man häufiger sieht, als privates Unternehmen hieran anlehnen, bei der Wahl der zu befolgenden Standards mit einem regelrechten Normendschungel konfrontiert. Die ESG-Herausforderungen sind global – die Anforderungen aber national und fragmentiert, zugleich komplex und anspruchsvoll in der Unternehmensumsetzung.
Die Folge: weitverbreitete Unsicherheit und ein immenser Beratungsaufwand, der nicht nur viel Geld und Zeit kostet, sondern auch die unternehmensinterne Bürokratie anwachsen lässt – obwohl der Informationswert der Angaben für Investoren gleichzeitig nicht selten zu wünschen übrig lässt. Anwendern und Adressaten stehen weltweit gleich mehrere verschiedene Standardsetzer von sogenannten ESG-Disclosure Frameworks gegenüber.
Damit muss Schluss sein, denn Unternehmen und Investoren brauchen einheitliche Standards. Im September 2020 haben das World Economic Forum und die vier großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften ein White Paper veröffentlicht. In dem Papier geht es darum, wie nachhaltige Unternehmenswerte geschaffen und gemessen werden können.
Ebenfalls im September erklärten die fünf großen Normsetzer ihre Absicht, gemeinsam ein umfassendes Regelwerk zur Berichterstattung zu erarbeiten. Das wäre in der Tat ein entscheidender Schritt nach vorn, der hervorragende Zukunftsperspektiven eröffnen würde.
Denn entscheidend dürfte es sein, die künftigen quantitativen und qualitativen Ziele aufzuzeigen – sowohl kurz- als auch langfristig, das heißt für die nächsten Jahrzehnte.
ESG-Kriterien müssen einheitlich sein
Es muss Klarheit herrschen, was man anstrebt. Die Empfehlungen der wichtigen, auch für die Banken relevanten Task Force on Climate-Related Financial Disclosure des Financial Stability Board weisen ebenfalls in diese Richtung: Szenarioplanungen und darauf abgestimmte ESG-Ziele, die einzelne Unternehmen dann auf ihre spezifische Situation runterbrechen können. Unternehmen und auch Aufsichtsräte brauchen eine Richtschnur, an der sie sich orientieren können.
Unverzichtbar ist dabei jedoch eine differenzierte Betrachtung von Nachhaltigkeitsentwicklungen, etwa für unterschiedliche Branchen. Volkswirtschaftlich gesehen wäre es sogar gefährlich, alle Industrien über einen Kamm zu scheren. Einige Branchen sind natürlich klimarelevanter als andere.
Wichtig ist hier weniger die absolute Höhe der derzeitigen Nachhaltigkeits-Kennzahlen als vielmehr der gewählte Pfad und der Fortschritt, der auf ihm erreicht wird. Wie stellen die Unternehmen sich für die kommenden Jahre und Jahrzehnte auf, und welche Ziele verfolgen sie? Inwieweit halten sie diese Ziele auch ein? Insofern ist auch hier ein Kapitalmarkt-Ansatz, der in Branchen denkt, richtig.
Darüber hinaus ist es von elementarer Bedeutung, bei der Regulierung und Beurteilung von Unternehmen deren jeweilige Größe mit in die Beurteilung einzubeziehen. Auch gut gemeinte Regeln haben häufig unbeabsichtigte Folgen, etwa wenn kleinere Unternehmen durch ein Zuviel an Normvorgaben ausgebremst werden.
Europas Vorteil gegenüber China
Schließlich darf beim Blick auf den Kapitalmarkt eines nicht vergessen werden: Die Verfolgung von ESG-Zielen ist auch für andere Gruppen wichtig, insbesondere für die Mitarbeiter des Unternehmens. Sie in die Entwicklung und Umsetzung von Nachhaltigkeitsstrategien eng einzubinden ist nicht nur notwendig, sondern eröffnet auch die Chance, die Mitarbeiter-Verbundenheit zu stärken.
Ziel sollte es sein, global so weit wie möglich einheitliche ESG-Kriterien durchzusetzen. Eine kluge ESG-Strategie bietet den USA und Europa die Möglichkeit, sich beim Megathema Nachhaltigkeit wohltuend vom intransparenten Rivalen China abzuheben – und so Pluspunkte auf der geopolitischen Bühne zu sammeln.
Mehr: Fondshäuser müssen transparenter über die Nachhaltigkeitsbilanz ihrer Produkte informieren.
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Und wer hier noch ein bisschen tiefer in die Materie einsteigen möchte, dem sei ein Blick in den Final Report der ESAs zu technischen Standards in Bezug auf die ESG-Offenlegungs-VO empfohlen (insbes. Annex I).
https://www.esma.europa.eu/sites/default/files/library/jc_2021_03_joint_esas_final_report_on_rts_under_sfdr.pdf
Da wird sehr deutlich was Frau Achleitner mit Komplexität meint.....
Wenn jetzt die Bürokratie auch noch die Nachhaltigkeit lähmt, dann ist nicht viel gewonnen. Ich sage dazu immer "What we need is enabling regulation, not impeding regulation!"