Gastkommentar Plädoyer für ein starkes Wir

Wolfgang Schäuble ist Präsident des Deutschen Bundestages. Der 78-Jährige ist seit 1965 CDU-Mitglied. Er war unter anderem Bundesinnen- und -finanzminister. Der Gastbeitrag basiert auf einem Auszug aus seinem neuen Buch „Grenzerfahrungen“, das am 29. März im Siedler Verlag erscheint.
Seit der Corona-Pandemie reden wir wieder verstärkt über ein Wir. Vordergründig geht es dabei um den Schutz vor dem Virus, dahinter liegt aber ein weitergehendes, schon lange spürbares gesellschaftliches Bedürfnis nach Gemeinsamkeit – nach allgemein gültigen Normen und Anstand.
Anstand in der freiheitlichen Demokratie meint die moralische Selbstverpflichtung, nicht nur im Sinne des eigenen Vorteils zu handeln, sondern Verantwortung zu übernehmen – für den anderen, für die Mitmenschen.
Es geht um Gemeinsinn. Das ist ein knappes und deshalb umso wertvolleres Gut, wie die Pandemie gezeigt hat. Die krisenhaften Monate des Shutdowns haben uns auf drastische Weise den Wert sozialer Bindungen vor Augen geführt. Haben wir die gegenseitige Hilfe von Freunden, Bekannten, aber auch einander bislang unbekannter Nachbarn nicht gerade deshalb als so befreiend empfunden, weil viele den sozialen Zusammenhalt zuletzt schwinden sahen?
Weil im Streben nach immer mehr der Egoismus jeden Gedanken an das Gemeinwohl dominierte? Schon vor der Pandemie spürten wir doch, dass bei wachsender gesellschaftlicher Polarisierung oftmals das, was uns trennt, deutlicher erschien als das, was uns vereint: in Denkweisen, Zukunftserwartungen, Lebensstilen, zwischen Stadt und Land, zwischen Kosmopoliten und Heimatverbundenen, zwischen alten und neuen Mittelschichten.
Dabei ist, das legen Umfragen nahe, den Deutschen sozialer Zusammenhalt wichtig – wobei sie allerdings zugleich davon ausgehen, dass ihren Mitmenschen der Zusammenhalt der Gesellschaft sehr viel weniger bedeutet als ihnen selbst. Das Vertrauen in die anderen sinkt offenbar. Deshalb lohnt es, gerade nach der anfänglichen Wir-Erfahrung im Zuge der Corona-Pandemie über Identität nachzudenken, über das, was heute ein Gefühl von Zugehörigkeit stiftet.
Die Frage nach Zusammenhalt und Identität
Der rasante gesellschaftliche Wandel ist für viele Menschen mit Sorgen vor dem Verlust des Vertrauten, von Heimat verbunden. Sie fürchten, von den Veränderungen überrollt zu werden, einer immer komplexeren Welt ausgeliefert zu sein. Das ist auch bei diesem Virus so, das uns so unerwartet traf und das wir bislang immer noch nicht hundertprozentig verstehen können.
Wer in einer Gesellschaft die Identitätsfrage stellt, fragt nach dem Zusammenhalt – und umgekehrt. Wo das Gefühl vorherrscht, Bindungen schwinden, werden Identitätsfragen virulent. Wir spüren doch, dass unsere Gesellschaften unter den Bedingungen von Globalisierung und Digitalisierung heterogener, unübersichtlicher und konfliktreicher werden.
Soziologen, die sich derzeit so intensiv wie lange nicht mit Spaltungen in unserer Gesellschaft befassen, haben dabei nicht mehr vorrangig ökonomische und soziale Ungleichheiten im Blick. Sie beschreiben eine Zersplitterung der Gesellschaft in verschiedenen Lebenswelten. Neben sozialen und kulturellen Aspekten wirken auch politische Einstellungen heute wieder verstärkt polarisierend – und noch immer der ost- beziehungsweise westdeutsche Hintergrund. Eine der Bruchstellen verlaufe zudem im Verhältnis zur global vernetzten Welt: ob man ihr selbstbewusst zukunftsoffen begegne oder rückwärtsgewandt mit Furcht und Ablehnung.
Menschen brauchen ein Grundgefühl von Sicherheit
Unsere Gesellschaft ist heute bunter und vielfältiger. Durch Menschen ganz unterschiedlicher geografischer, kultureller, sozialer und religiöser Herkunft. Wo Vielfalt herrscht, wird die Frage nach dem Verbindenden wichtiger. Die Politik sollte sich deshalb die Frage stellen: Wie erhalten und wie schaffen wir neue Orte, Zeit und Gelegenheiten, wo sich Menschen aus unterschiedlichen Schichten und Lebenswelten begegnen können? Vereinzelungsorte haben wir doch – gerade in Zeiten der Pandemie – genug.
Für die innere Stabilität einer Ordnung, der sich Menschen anvertrauen, ist entscheidend, dass diese es vermag, das menschliche Bedürfnis nach Sicherheit zu stillen. Die Menschen haben nur dann Vertrauen, wenn der Staat seiner Verpflichtung gerecht wird, allen den größtmöglichen Schutz zu gewähren, und er damit ein Grundgefühl von Sicherheit vermittelt. Und wenn die Menschen spüren, dass es gerecht zugeht.
Unser Grundgesetz postuliert in Artikel 72 die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse. Zu große Unterschiede werden als ungerecht empfunden, sie gefährden die soziale Balance. Gleichwertige Lebensverhältnisse sind zwingende Voraussetzungen für den sozialen Frieden. Gleichwertigkeit heißt aber nicht Gleichheit.
Dieser entscheidende Unterschied trägt der historisch und kulturell gewachsenen Vielfalt als Reichtum unseres Landes Rechnung. Ungleichheiten bestanden und bestehen – erst recht im föderalen Staat. Das zeigt sich letztlich auch in den unterschiedlichen Regelungen der Bundesländer in der Pandemie. Die Pandemie zu bewältigen ist uns dennoch gemeinsam gestellt.
Die Risiken sind ungleich verteilt
Das beginnt damit, dass nur die Disziplin aller die Infektion Einzelner verhindern kann. Deshalb liegt in der Aufgabe, vor der wir stehen, bei aller Zumutung auch eine Chance, den gesellschaftlichen Zusammenhalt nachhaltig zu stärken. Deshalb kann aus der Überwindung der Pandemie eine verbindende gemeinsame Erzählung wachsen.
Wir sollten allerdings nicht naiv glauben, das gelänge uns, weil das Virus alle Menschen gleich bedroht. Die Risiken sind ungleich verteilt. Aus medizinischer Sicht sind Ältere besonders gefährdet, umgekehrt tragen die Jüngeren einen großen Teil der wirtschaftlichen und sozialen Folgen. Wochenlange Schulschließungen beeinträchtigen die Bildungschancen von Kindern, die Wirtschaftskrise beeinträchtigt die Chancen junger Erwachsener am Ausbildungs- und Arbeitsmarkt.
Der zu Beginn der Pandemie spürbar gewachsene gesellschaftliche Zusammenhalt wird sich deshalb daran beweisen, ob wir hier zu einem vernünftigen und mehrheitlich getragenen Ausgleich der unterschiedlichen und gleichermaßen legitimen Interessen kommen. Und wenn wir dabei auch beherzigen, worauf zu Recht hingewiesen wird: dass wir das in der Pandemiebekämpfung allgemein angeordnete Social Distancing sehr unterschiedlich erleben – weil auch die Bedingungen der Isolation ganz unterschiedliche sind.
Wer sich in seinen Garten, ins Ferienhaus oder auch nur auf seinen Balkon zurückziehen kann, wird die Zeit anders erleben als eine Alleinerziehende, die in einer Zweizimmerwohnung die Herausforderung des Homeschoolings bei gleichzeitigem Homeoffice bewältigen muss.
Wie stark eine plural verfasste Gesellschaft zusammenhält und in der Vielfalt ein Gefühl des Miteinanders entstehen lässt, hat mit ihrer Fähigkeit zu tun, Konflikte, wie sie auch durch die Pandemie entstehen, auszuhalten; es hat mit Bindekräften und Toleranz, Respekt, Vertrauen und Empathie zu tun. Nur gemeinsam, mit einem starken Wir, trotzen wir dieser Pandemie.
Mehr: Maskenfreiheit vs. Freiheit zu leben: Corona wird zum Charaktertest.
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