Gastkommentar: Ruf nach Gerechtigkeit – aber nicht zulasten des Mittelstands

„Nicht in Ordnung“ sei die Vermögensverteilung in Deutschland – eine Aussage, die in einer politischen Talkshow wie der von Maybrit Illner grundsätzlich nicht ungewöhnlich wäre. Überraschend war jedoch der Absender: Jens Spahn.
Der prompte Widerspruch von Wirtschaftsministerin Katherina Reiche und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder genügte, um Spekulationen über eine programmatische Wende der Union zu dämpfen. Bemerkenswert bleibt die Äußerung trotzdem – nicht nur, weil sie ein seltenes Störgeräusch im unionsinternen Gleichklang markiert, sondern auch, weil sie ein Gefühl artikuliert, das in der Bevölkerung längst verbreitet ist.
Mehrheitlich sieht die Bevölkerung Menschen mit hohen Einkommen und Vermögen in der Pflicht, mehr Steuern zu zahlen. Geht man aber in die konkreten Steuerungsmodelle, wird es differenziert. So auch bei der Erbschaftsteuer.
In aktuellen Civey-Erhebungen geben 34 Prozent der Befragten an, die Erbschaftsteuer senken zu wollen. 28 Prozent plädieren für den Status quo. Eine klassische Dreiteilung im Meinungsspektrum also – ein Muster, das sich bei vielen verteilungspolitischen Fragen zeigt, in denen Besitz, Fairness und Eigeninteresse miteinander konkurrieren.
Die Unsicherheit vieler Befragter hängt auch mit der Komplexität der Besteuerung von Erbschaften zusammen: Über Geld- bis hin zu Immobilienvermögen fallen die Regelungen unterschiedlich aus, was ein Sammelsurium an Einzelfällen und Betroffenheiten erzeugt. Was bleibt, ist ein diffuses Empfinden, dass „die Reichen“ zu glimpflich davonkommen.
Karlsruhe als Weichensteller bei der Erbschaftsteuer
Anlass für Spahns Vorstoß dürfte das laufende Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht sein. Die Richterinnen und Richter prüfen derzeit, ob die steuerlichen Vergünstigungen für Firmenerben verfassungsgemäß sind. Das Urteil – erwartet noch in diesem oder im kommenden Jahr – wird weitreichende Folgen haben. Es geht um die Frage, wie sich eine gerechte Besteuerung von Vermögen mit dem Erhalt unternehmerischer Strukturen vereinbaren lässt.
Die Fronten sind bekannt. Während die einen eine stärkere Besteuerung von Erbschaften fordern, um gesellschaftliche Ungleichheit zu verringern, warnen andere vor den Folgen für Familienbetriebe, die über Generationen hinweg aufgebaut wurden. Gerade sie profitieren bislang von steuerlichen Ausnahmen.
Was die Bevölkerung bei der Erbschaftsteuer will
Deutschland ist ein Land der Familienunternehmen. Eine exklusiv für das Handelsblatt erhobene Studie von Civey zeigt: Neun von zehn Deutschen betrachten Familienunternehmen nicht nur als zentralen Bestandteil der Wirtschaft, sondern auch als wichtigen Anker für die Verwurzelung im ländlichen Raum.
Vor diesem Hintergrund überrascht ein weiteres Ergebnis kaum: 68 Prozent der Bevölkerung sprechen sich dafür aus, dass Familienbetriebe auch nach einer möglichen Reform der Erbschaftsteuer weiter begünstigt werden sollten – unter Auflagen, wie etwa einer konstanten Beschäftigtenzahl.
Diese Haltung ist bemerkenswert: Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger sehnt sich nach mehr Gerechtigkeit, will aber gleichzeitig keine Politik, die den Mittelstand schwächt.
Zwischen Neid und Leistungsbewusstsein, zwischen Umverteilung und Verantwortung bewegt sich die öffentliche Meinung – und genau hier entscheidet sich, ob eine Reform gesellschaftliche Akzeptanz findet.
Beides zugleich ernst nehmen
Die Diskussion um die Erbschaftsteuer ist mehr als eine technische Frage des Steuerrechts. Sie ist ein Gradmesser dafür, wie das Land über Leistung, Herkunft und Fairness denkt. Jens Spahn hat mit seinem Einwurf ein Gefühl ausgedrückt, das sich in den Daten längst messen lässt.
Wie auch immer Karlsruhe entscheidet – die Politik wird sich neu positionieren müssen. Der Wunsch nach mehr Verteilungsgerechtigkeit ist real. Doch er trifft auf die tiefe Überzeugung, dass Deutschlands wirtschaftliche Stärke auf den Schultern der Familienbetriebe ruht. Beides zugleich ernst zu nehmen, ist die eigentliche Herausforderung.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts wird wegweisende Leitplanken für den künftigen politischen Umgang mit Erbschaften setzen. Entscheidend wird sein, dass die daraus resultierenden politischen Reformen den gesellschaftlichen Wunsch nach mehr Gerechtigkeit ernst nehmen, ohne die wirtschaftliche Substanz zu gefährden, die Deutschlands Familienunternehmen über Jahrzehnte aufgebaut haben.
Die Autorin: Janina Mütze ist Gründerin und CEO des digitalen Markt- und Meinungsforschungsunternehmens Civey.




Korrekturhinweis: In einer früheren Fassung des Text hatte es geheißen, 32 Prozent seien für eine Erhöhung der Erbschaftssteuer.







