Gastkommentar: Über Einschränkungen der Grundrechte müssen Gerichte entscheiden

Claudio Nedden-Boeger ist Richter des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen.
Die Coronaschutzverordnungen sind derzeit in den meisten Bundesländern bis zum 3. Mai 2020 befristet. Das beruht darauf, dass die jeweiligen Lageeinschätzungen aktuell immer nur für einen Zeitraum von 14 Tagen tragen und deshalb die Ministerpräsidenten mit Merkel verabredet hatten, am 30. April erneut „über weitere Lockerungen“ zu beraten.
Dabei mutet schon die Diktion eher merkwürdig an, denn sie verdreht den verfassungsrechtlichen Maßstab: Nicht „Lockerungen“ bedürfen einer Beratung und Einigung, sondern im Gegenteil bedarf die Aufrechterhaltung der Grundrechtsbeschränkungen einer stetig erneuerten verfassungsrechtlichen Legitimation, vermittelt durch regelmäßige Vergewisserung in kurzen Abständen darüber, ob und in welchem Umfang die Maßnahmen noch geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sind.
Darauf haben mehrere Gerichte bereits hingewiesen, darunter auch das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss vom 10. April 2020. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof und das Oberverwaltungsgericht Münster haben übereinstimmend ausgeführt, dass eine fortwährende Beobachtungs- und Überprüfungspflicht der Verordnungsgeber besteht, ob und inwieweit sie an den Einschränkungen festhalten.
Sollten einzelne Maßnahmen schon zu einem früheren Zeitpunkt nicht mehr erforderlich sein oder sich als weitgehend nutzlos erweisen, müssten diese – so die Gerichte – umgehend aufgehoben oder modifiziert werden.
Vergangenen Donnerstag hat Bundeskanzlerin Merkel indessen erklärt, dass sie mit den Ministerpräsidenten nicht wie verabredet am 30. April, sondern erst am 6. Mai „über weitere Lockerungen“ sprechen wolle.
Verlängerung der Maßnahmen diktieren?
Damit will sie die ihr missliebigen Diskussionsbeiträge bestimmter Bundesländer offenbar unterdrücken und stattdessen bundeseinheitlich bewirken, dass die am 3. Mai auslaufenden Regelungen ohne weitere Überprüfung, Abstimmung und Aktualisierung jeweils mit unverändertem Inhalt „verlängert“ (juristisch also: neu verordnet) werden.
Merkel diktiert damit nicht nur föderalismus bedenklich in Länderzuständigkeiten hinein und riskiert den Bruch der bisher einigermaßen geschlossenen Länderfront. Sie unterschätzt vielmehr womöglich das Risiko, dass einzelne Gerichte die anstehenden Neuverordnungen der Bundesländer für die Zeit nach dem 3. Mai komplett außer Vollzug setzen könnten, wenn diese nicht durch eine wie verabredet aktualisierte Vergewisserung über die weitere Notwendigkeit und Angemessenheit der Maßnahmen getragen sind.
Eine Verlängerung des gesamten Maßnahmenpakets mit der lapidaren Begründung, man verfüge noch über keine neuen Erkenntnisse, könnte vielleicht nicht ausreichen, wenn man die vorher vereinbarten Termine zum Austausch über neue Erkenntnisse und deren Konsequenzen einfach absagt bzw. die Telefonschalte – so Merkel – „anderen Fragen“ widmet.
Über jeden verfassungsrechtlichen Zweifel erhaben ist die Güterabwägung der aktuell verfolgten Seuchenbekämpfungsziele mit den psychischen, soziologischen und ökonomischen Schäden nämlich ohnehin nicht, wie zuletzt Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble feinsinnig herausgearbeitet hat. Zwar haben die Gerichte bisher nicht oder allenfalls ganz punktuell eingegriffen.
Das ist aber nur eine Momentaufnahme und darf die Politik nicht in Sicherheit wiegen. Mit jeder (zeitlichen) Ausdehnung der Freiheitsbeschränkungen wachsen nämlich die rechtlichen Anforderungen an deren Begründung, schon weil die Schäden und Nachteile dynamisch anwachsen.
Ausnahmezustand und nicht „neue Normalität“
Die Grundrechtseingriffe sind keine „neue Normalität“ – wieder so eine merkwürdige Diktion –, sondern ein fortlaufend rechtfertigungsbedürftiger Ausnahmezustand. Es steht nicht in Merkels Belieben, sondern ist verfassungsrechtliche Pflicht der Landesregierungen, den Prozess laufend nachzusteuern und alle Maßnahmen zeitnah auf das jeweils Notwendige zu beschränken. Und es wird immer dringender, die Zielvorstellungen und Abwägungsprozesse transparent zu kommunizieren.
Merkels Themenbeschränkung wird deshalb aus rechtlichem Blickwinkel schnell zu einem Vergewisserungs-, Abwägungs- und Begründungsmangel. Um sich insoweit abzusichern, könnten einzelne Länder erst recht Veranlassung sehen, vor dem 3. Mai jeweils landeseigene Lageeinschätzungen zu treffen, individuelle Lösungen zu erarbeiten und dann umzusetzen.
Danach hätten wir, etwa auch was Gastronomie und Beherbergung, Vereinssport und Frisiersalons betrifft, womöglich einen noch viel größeren Flickenteppich als bisher. Und ob man dann noch einmal zur Bundeseinheitlichkeit zurückfinden kann, ist mehr als fraglich.
Merkels Aufschieben der konsensorientierten Beratung „über weitere Lockerungen“ ist daher in vielerlei Hinsicht brandgefährlich. Es kann am Ende genau das Gegenteil dessen bewirken, was ihr vorschwebt.
Mehr: Der Bundestagespräsident Wolfgang Schäuble positioniert sich in der Debatte um Einschränkungen der Grundrechte. Das Recht auf Leben könne nicht über allem stehen.





