Gastkommentar: Warum der deutsche Strommarkt ein neues Design braucht

Mitten in der Transformation des Energiesystems steht der deutsche Strommarkt am Scheideweg zwischen Marktliberalisierung und zentraler Steuerung. Staatliche und regulatorische Eingriffe beeinflussen heute nahezu alle Markteintritts- und Marktaustrittsentscheidungen sowie die Strompreise. Hinzu kommt die mangelnde Flexibilität der Einspeisung von Wind- und Solarstrom sowie von Teilen der Nachfrage. All dies führt dazu, dass der Markt nicht in jeder Situation zuverlässig und kosteneffizient Strom bereitstellen kann.
Die von der Bundesregierung vorgeschlagene zweistufige Kraftwerksstrategie weist einen geeigneten, wenn auch nicht einfachen Weg zur Entwicklung eines modernen Marktdesigns, das Resilienz, Wettbewerb und Innovation ermöglicht. Entscheidend wird sein, wie diese Strategie in die Praxis umgesetzt wird.
Der erste Schritt ist die Beschaffung von Gaskraftwerken mithilfe von Auktionen
Die erste Stufe ist die Beschaffung von Gaskraftwerken mithilfe von Auktionen. Diese Steuerungsentscheidung ist sinnvoll. Der Flickenteppich von Vorgaben und Kontrollen führt dazu, dass „der Markt“ mangels verlässlicher Preissignale versagen würde, wenn man ihm die Entscheidung über Investitionszeitpunkt, Standortwahl und Erzeugungsart überließe.
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Solange regional differenzierte Preise fehlen, werden die besten Standorte und Ressourcenkonfigurationen durch sorgfältige Netzmodellierung ermittelt – sofern die Europäische Kommission mitmacht. Wettbewerb wird also dort eingesetzt, wo er in der Übergangsphase nutzbar gemacht werden kann, nämlich bei der Beschaffung geeigneter Kapazitäten.
Stufe zwei der Kraftwerksstrategie beinhaltet die anspruchsvolle Einführung eines neuen, marktbasierten Kapazitätsmechanismus, der bis Mitte dieses Jahres entwickelt und bis 2028 in Kraft treten soll. Wichtig ist, dass in diesen Prozess die Erfahrungen mit Strommarktdesigns der vergangenen Jahrzehnte einfließen.
Fehlende Resilienz war der Grund für alle großen Strommarktdebakel der vergangenen Jahre
Moderne Strommärkte müssen systemischen Bedrohungen standhalten können, darunter Schwankungen bei der Erzeugung erneuerbarer Energien, extreme Wetterbedingungen, Cyberangriffe, Unterbrechungen der Brennstoffversorgung und Ausfälle kritischer Infrastrukturen. Praktisch alle großen Strommarktdebakel der vergangenen 25 Jahre waren auf mangelnde Resilienz zurückzuführen.
Herkömmliche Kapazitätsmärkte, wie sie verschiedene Länder eingeführt haben, können diese Herausforderungen aber typischerweise nicht ausreichend adressieren. Denn sie sind auf die Bereitstellung ausreichender Kapazität zur Deckung der Spitzennachfrage bei voneinander unabhängigen Ausfällen von Erzeugungsressourcen ausgerichtet – und nicht auf systemische Ereignisse, die ganze Gruppen von Ressourcen auf der Angebots- und Nachfrageseite betreffen können.
Beispiele sind der Strommarktkollaps in Kalifornien im Jahr 2000, die verheerende Kältewelle in Texas 2021 und die anhaltend hohen Strompreise in Europa im Jahr 2022, die durch die russische Invasion in der Ukraine verursacht wurden. Systemische Ereignisse werden mit zunehmender Abhängigkeit von Elektrizität und beschleunigtem Klimawandel wahrscheinlich häufiger und in größerem Umfang auftreten.
Resilienz und Flexibilität entstehen, wenn das Strommarktsystem Innovationen durch wirksamen Wettbewerb auf der Angebots- und Nachfragseite fördert, der wiederum durch marktgerechte Preissignale angetrieben wird.
Ein Schlüssel dazu ist ein moderner Stromterminmarkt, der die Funktionen eines herkömmlichen Kapazitätsmarktes erfüllen und erweitern kann: Er verpflichtet Großhandelskunden (zum Beispiel Stromversorger und energieintensive Unternehmen), Risiken durch geeignete Absicherungsgeschäfte zu managen. Klug ausgestaltet, würde er Risiken zuverlässig absichern und es den Marktteilnehmern ermöglichen, Angebot und Nachfrage fließend und flexibel an neue Marktbedingungen anzupassen und auszugleichen – bis hin zum Zeitpunkt der Stromerzeugung.
Ein solches System könnte auch Vorgaben für den Ausbau erneuerbarer Energien nahtlos integrieren und marktbasierte Vorkehrungen für außergewöhnliche Knappheitssituationen ermöglichen. Gleichzeitig bietet dieser Ansatz die Voraussetzungen für einen schrittweisen Übergang zu einer robusten marktorientierten Stromversorgung.
Ohne Wettbewerb und kraftvolle Preissteuerung wird es die notwendigen Innovationen, Resilienz und Dekarbonisierung nicht geben. Ein moderner Terminmarkt für Strom könnte allen Marktteilnehmern dienen und verhindern, dass Fehler im Marktdesign die deutsche Wirtschaft und ihre Energiewende untergraben.

Die Autoren:
Peter Cramton ist Professor für Wirtschaftswissenschaft an der Universität Maryland.
Axel Ockenfels ist Professor für Wirtschaftswissenschaft an der Universität Köln und Direktor am Max-Planck-Institut zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern in Bonn.





