Die „Werte des Westens“ gelten als Fixstern für die Entwicklung demokratischer Industriestaaten, die in den vergangenen Jahrzehnten tatsächlich oft durch ein Mehr an Liberalität und Partizipation gekennzeichnet war. Dennoch ist Winklers Diktum gerade aus Sicht eines Historikers überraschend. Denn der europäische Kolonialismus und Imperialismus vom Ende des 15. bis weit ins 20. Jahrhundert spricht eine andere Sprache: nicht die Sprache der Menschenrechte und Menschenwürde, sondern die der gewaltsamen Eroberung, meist blutigen Unterdrückung und Ausbeutung anderer Länder.
Das gilt in abgeschwächter Form auch für die USA: Seit der Monroe-Doktrin aus den 1820er-Jahren betrachtete Washington Lateinamerika lange als seinen „Hinterhof“ – und behandelte ihn auch dementsprechend. Historisch gesehen ist der Topos von der moralischen Überlegenheit des „Westens“ durch seine Gewaltgeschichte übel befleckt. Die Frage stellt sich, wie es in der Gegenwart aussieht.
Die USA als „Fackelträger demokratischer Freiheit“ zu bezeichnen wäre während der Präsidentschaft von Donald Trump wohl selbst überzeugten Atlantikern nicht in den Sinn gekommen. Trumps Verachtung demokratischer Spielregeln war ebenso unübersehbar wie seine Hochachtung von Diktatoren. Er hat die ohnehin gespaltene und in Teilen nach wie vor rassistische US-Gesellschaft weiter polarisiert.
Trump schaffte es, Millionen von US-Bürgern glauben zu machen, ihm sei der Wahlsieg gestohlen worden. Damit hat er die Axt an den Grundpfeiler des demokratischen Prinzips vom friedlichen Machtwechsel gelegt. Trotz der Billionenprogramme dürfte es seinem Nachfolger Joe Biden so bald nicht gelingen, die tiefen Gräben in der US-Gesellschaft zuzuschütten – zumal Biden ebenfalls eine „America first“-Politik betreibt, nur mit deutlich leiseren Tönen.
Beispielhaft dafür steht das Verbot, Corona-Impfstoffe zu exportieren. Die Rückkehr der US-Außen(wirtschafts)politik zum Multilateralismus ist bislang nur ein Hoffnungswert. In der Europäischen Union sieht es nicht viel besser aus: Wo bis zum Ende des Kalten Krieges Mauer und Stacheldraht standen, trennt heute ein tiefer ideologischer Graben die „westliche Wertegemeinschaft“.
Global Challenges – Idee und regelmäßige Autoren
Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban etwa weigert sich, Flüchtlinge aufzunehmen, höhlt die Pressefreiheit aus und mobilisiert den ungarischen Nationalismus mit abstrusen Verschwörungstheorien gegen den Milliardär George Sorros. Orban strebt offen eine „illiberale Demokratie“ an, will aber auf Hilfsgelder aus Brüssel nicht verzichten.
Polen schreddert den Rechtsstaat
Warschau wird von der EU-Kommission mit einem Rechtsstaatsverfahren nach dem anderen überzogen, weil die in Polen regierende „Partei für Recht und Gerechtigkeit“ seit Jahren die Unabhängigkeit der Justiz schreddert. Auch Tschechien misst der Rechtsstaatlichkeit einen eher diffusen Stellenwert bei. Kurzum: Die großen Erwartungen an die EU-Osterweiterung von 2004 wurden mit Blick auf die „westlichen Werte“ vielfach enttäuscht.
Dass ein oft völkischer Rechtspopulismus längst auch in den westlichen Kernstaaten Europas Fuß gefasst hat, macht die Sache nicht besser. Beifall aus China und die Unterstützung rechts-nationaler Parteien durch Russland signalisieren: Die Strategen in Peking und Moskau erhoffen sich von einem Erstarken jener Kräfte, die den Nationalstaat in den Mittelpunkt stellen, eine geopolitische Schwächung der EU.
Hinzu kommt: Die Einführung des Euros hat sich nicht, wie erhofft, als Einigungsprojekt erwiesen. Die starken Länder des Nordwestens stehen einem schwachen und durch die Corona-Pandemie noch weiter geschwächten Süden gegenüber. Wachstumsversprechen, die mit der Einführung der Gemeinschaftswährung verbunden wurden, haben sich für die Südländer nicht erfüllt. Die wirtschaftliche Heterogenität der Euro-Zone ist heute eher größer als bei der Einführung des Euros.
Die „westlichen Werte“, dieser Eindruck drängt sich auf, haben an Strahlkraft verloren. China zeigt eindrucksvoll, wie falsch die Annahme war und ist, technologischer und wirtschaftlicher Erfolg gingen mit wachsender Liberalität von Wirtschaft und Gesellschaft einher. Vieles deutet darauf hin, dass nach der Pax Britannica auch die Pax Americana von der Weltbühne abtreten wird. Kein Land – auch nicht China – dürfte in absehbarer Zeit die Rolle einer globalen Ordnungsmacht spielen.
EU muss mit gutem Beispiel vorangehen
Die Abwesenheit eines Hegemons aber lässt die internationalen Auseinandersetzungen rauer werden, wie wir es derzeit im Umgang zwischen Russland und der EU sowie dem Konflikt zwischen Moskau und Kiew erleben. Kann da die Europäische Union der letzte Anker „westlicher Werte“ sein? Will die Staatengemeinschaft ihre rhetorisch stets hochgehaltenen Werte wieder attraktiver machen, muss die EU mit gutem Beispiel vorangehen.
Das bedeutet: Es führt kein Weg an einer Vertiefung der Europäischen Union vorbei, sprich der weiteren Übertragung nationaler Souveränitätsrechte auf die EU-Kommission bei gleichzeitiger Stärkung des Europäischen Parlaments. Da eine Reihe ehemaliger Ostblockländer den Nationalstaat als Symbol der Befreiung von sowjetischer Vorherrschaft und Garanten politischer Freiheit ansieht, ist der notwendige Vertiefungsprozess mit ihnen nicht zu machen. Soll es mit der Gemeinschaft vorangehen, muss jetzt das seit Langem bekannte Konzept eines Europas der „zwei Geschwindigkeiten“ endlich politisch umgesetzt werden.
Ginge der Impuls dazu von Deutschland und Frankreich aus, würden sich – mit Ausnahme Finnlands? – die nordischen und westlichen EU-Länder wohl anschließen. Geostrategen des integrationsbereiten „Kerneuropas“ hätten dann die Möglichkeit, die EU über den Binnenmarkt hinaus in eine wirkliche politische und wirtschaftliche Union zu verwandeln: von einer europäischen Armee über eine gemeinsame Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik bis hin zur einheitlichen Finanzpolitik.
Dieses Projekt könnte Strahlkraft entfalten und Kerneuropa zu einem stärkeren, nicht nur in Sonntagsreden „wertegebundenen“ Akteur im Ringen mit China, Russland und den USA aufwerten. In jedem Fall käme man so auch der Antwort auf die Frage näher, was die Europäische Union eigentlich sein soll.
Der Autor: Prof. Bert Rürup ist Präsident des Handelsblatt Research Institute und Chefökonom des Handelsblatts.
Mehr: Europa braucht eine Strategie für den Indo-Pazifik.
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Lieber Herr Rürup,
In vielen Belangen gebe ich Ihnen recht. Allerdings ziehen Sie (als journalistischer Autor) sich und das Handelsblatt (als Zeitung) aus der Verantwortung!! Es ist ihre Aufgabe nicht nur darüber zu berichten was Politiker sagen bzw. in der Welt passiert, sondern es ist ihre Aufgabe gewisse Dinge zu überprüfen und dann ggf. festzustellen ob es sich um Falschnachrichten ("Fake News") handelt. Nur durch eine objektive und transparente Berichterstattung/Diskussion kann wieder Vertrauen in WESTLICHE WERTE geschaffen werden.
Demzufolge wären unsere westlichen Werte deshalb ausgehöhlt, weil es keine freien Nachrichtensender gibt, welche Aussagen von Präsidenten, Kanzler, Minister, Ärzte etc. kritisch prüfen. Es entsteht der Eindruck, man müsse wiederholt lautgenug Schreien um Recht zu bekommen. Wobei dies nicht stimmt. Aussagen von Herrn Trump oder anderen offensichtlichen Populisten werden ab und zu überprüft. Die der hier regierenden Politiker allerdings nicht. Es entsteht der Eindruck, Sie wollen nicht an dem Ast sägen auf dem Sie sitzen. Gleichzeitig vermitteln Sie so allerdings der Bevölkerung das gleiche Bild wie in den USA - nämlich das Medienunternehmen nicht unabhängig sind-.
Wie können Sie Herr Rürup es verantworten, dass deutsche Politiker und Ärzte so massiv Falschnachrichten über die Gefährlichkeit des Corona Virus verbreiten? Sie und das Handelsblatt machen sich mitschuldig indem sie keine objektive und transparente Berichterstattung bezüglich des Corona Virus liefern.
PS: „der Westen verkörpert daher in geradezu idealer Weise die Idee von Demokratie, Gewaltenteilung, Rechtsstaat, Meinungsfreiheit und Menschenwürde – den Gegenpol von Diktatur und Autokratie."
--> genau dies wird durch eine einseitige Berichterstattung ausgehöhlt!!!
Packen Sie sich an der eigenen Nase und setzen den Startschuss
Das klingt sehr idealistisch...Meiner Meinung nach sind Deutsche heutzutage zu blind harte Realitäten anzuerkennen und unfähig für ihre eigenen Interessen einzutreten. Hätte es keinen europäischen Imperialismus in der Vergangenheit gegeben , dann würden wir heute in Europa alle mongolisch oder arabisch sprechen.
Die Osmanen haben wiederholt versucht Europa zu erobern, die Araber ebenfalls. Die spanische Reconquista der iberischen Halbinsel hat den Auftakt zur außereuropäischen Eroberungen bedeutet, war jedoch prinzipiell lediglich eine REaktion.
Westliche Werte sind in der Tat verloren gegangen, wobei der Begriff "Westen" wohl aus der Zeit des Kalten Krieges stammt. Ostberlin war Teil des Ostens und Westberlin war Teil des Westens. Der Kalte Krieg begann mit der West-Berlin Blockade durch die Sowjetunion und endete mit dem Mauerfall und der Teilwiedervereinigung des Deutschen Reiches. Deutsche sind nicht in der Lage auch innerhalb der Europäischen Union für ihre eigenen Interessen einzutreten. Anders als Italiener, die sich beschweren können, über das diktatorische Deutschland, was fiskalische Disziplin einfordert. Ich war früher sehr EU begeistert, und ebenfalls ein Idealist, ich bin es jedoch nicht mehr. Die Zeiten in denen die Besatzungsmächte (Sowjetunion/ USA/ England/ Frankreich) für die Interessen Deutschlands in der Welt eingetreten sind, sind vorbei. Auch wenn die EU in Anbetracht der Gesamtsituation ein grundlegend guter Ansatz ist.
Ich bin mit Herrn Rürop absolut d'Accord. Endlich setzt sich einmal jemand für unsere Werte ein. Wir sollten das wirklich als Unterscheidungsmerkmal hoch halten und zur Maxime unseres Handelns machen. Ohne Souveränitätsverzicht der EU-Staaten werden wir keinen Fortschritt machen.