Gastkommentar Warum die strategische Neuausrichtung vielen Unternehmen so schwerfällt

Walter Sinn verantwortet als Managing Partner die Aktivitäten der Unternehmensberatung Bain & Company in Deutschland und ist Mitglied in ihrem Global Board of Directors.
Corona-Schock, „America first“-Gebot und internationale Handelskonflikte haben die Verwundbarkeit der Geschäftsmodelle vieler deutscher Unternehmen zutage gebracht. Es gilt daher, neue Pfade zu beschreiten, um die Widerstandsfähigkeit und Stoßfestigkeit ihrer Ausrichtung zu erhöhen.
Entsprechend konzentrieren sich immer mehr Firmen darauf, Schutzmechanismen gegen überraschende Umbrüche und Unwägbarkeiten zu entwickeln und nicht nur auf klassische Disziplinen wie Effizienzsteigerung und Agilität zu setzen.
Doch in der Praxis zeigt sich, dass der Weg hin zu resilienten Geschäftsmodellen vielerorts noch weit ist – und durchaus schmerzhaft. Nach wie vor fokussieren sich die meisten Unternehmen auf Herausforderungen, die eher kurzfristiger und überschaubarer Natur sind. Und nach wie vor befürchten zahlreiche Entscheidungsträger, dass eine verbesserte Resilienz auf Kosten von Ergebnis und Aktienkurs gehen könnte.
Unternehmen und Investoren hatten sich seit 1990 in einem goldenen Zeitalter bewegt. In den vergangenen drei Jahrzehnten nahmen in den Industrieländern die Gewinne von Firmen im Durchschnitt doppelt so schnell zu wie das Bruttoinlandsprodukt. Wesentlicher Hebel in vielen Häusern waren profitables Wachstum und eine Steigerung der Effizienz. Konzepte wie Outsourcing, Offshoring, Just-in-Time-Logistik und Kerngeschäftsfokussierung wurden konsequent umgesetzt.
Dadurch hat jedoch im Laufe der Zeit die Resilienz abgenommen. Eine maßgebliche Rolle spielten dabei Faktoren wie rückläufige Diversifizierung sowie zunehmender Verschuldungsgrad. Darüber hinaus sind in der Coronakrise die auf äußerste Effizienz getrimmten Lieferketten zur Achillesferse geworden.
Widerstandsfähigkeit gibt es nicht umsonst
Widerstandsfähigere Geschäftsmodelle sind daher das Gebot der Stunde. Dafür gilt es allerdings zunächst, althergebrachte Denkweisen über Bord zu werfen. Tatsächlich wird Resilienz häufig mit der Eliminierung von Volatilität verwechselt. Doch Schwankungen gibt es immer wieder.
Auch in Zukunft ist kein Unternehmen vor schlechten oder überraschenden Nachrichten gefeit, siehe das Brexit-Votum in Großbritannien 2016. Schützen müssen wirksame Resilienz-Ansätze aber vor den fundamentalen Risiken, sprich vor Insolvenzen oder feindlichen Übernahmen.
Zugleich geht es bei Resilienz nicht nur darum, eine solide Bilanz vorzuweisen – auch wenn eine hohe Liquidität, ausreichend Eigenkapital sowie ein niedriger Verschuldungsgrad es leichter machen, Krisen zu bewältigen. Von ebenso entscheidender Bedeutung ist eine strategische, operative, technologische und organisatorische Dimension.
So ist beispielsweise von strategischer Relevanz, eine größere Diversifizierung im Geschäftsportfolio anzustreben. Zur operativen Resilienz zählt es, Redundanzen in der Lieferkette zu schaffen oder den Grad der Abhängigkeit von wenigen Lieferanten und Kundengruppen zu verringern. Wichtige Faktoren der technologischen und organisatorischen Resilienz wiederum sind Flexibilität und schnelles Handeln.
Dies stellten in den Anfängen der Coronakrise unter anderem diejenigen Unternehmen unter Beweis, denen es gelang, rasch Arbeitsplätze ohne Sicherheitseinbußen ins Homeoffice zu verlagern und dabei die operative Schlagkraft, aber auch die Firmenkultur aufrechtzuerhalten.
Transparenz ist wichtig
Die verschiedenen Dimensionen der Krisenfestigkeit verdichten sich oft in einem einfachen und transparenten Geschäftsmodell, das Unternehmen in die Lage versetzt, auf Fehlentwicklungen und Wendepunkte unverzüglich zu reagieren. Dann ist es möglich, mit den Folgen eines „schwarzen Schwans“ wie dem Sars-CoV-2-Virus besser umzugehen als der Wettbewerb.
Neu überdacht werden muss auch, wie Widerstandsfähigkeit im Unternehmen verankert werden kann. Resilienz ist nicht bloß eine technische Pflichtaufgabe des Risikomanagements. Vielmehr ist sie eine zentrale Angelegenheit des Topmanagements sowie der Aufsichtsgremien und eine Herausforderung für das gesamte Unternehmen.
Last, but not least: Resilienz gibt es nicht umsonst. Wer lediglich Quartalsgewinne als Erfolgsmaßstab heranzieht, wird sich mit dem Umbau zu stoßfesteren Geschäftsmodellen und Organisationen schwertun.
Gefordert sind mehr Mut und langfristiges Denken, und das sowohl vom Management als auch von den Investoren. Nach der Corona-Pandemie wird sich zeigen, was den Firmen die Erhöhung ihrer Widerstandsfähigkeit wert ist. Und wie sie mit mehr Resilienz ihren Unternehmenswert steigern können.
Resilienz ist also weder zum Nulltarif noch auf Knopfdruck zu haben. Es bedarf eines grundsätzlichen Schwenks auf Basis einer langfristigen Vision, eines tiefen Verständnisses für Geschäftsmodell und Organisation sowie einer ordentlichen Portion Kreativität. Die Schritte hin zu einem resilienten Geschäftsmodell beinhalten, Gefahren zu erkennen und Ursachen sowie Ausmaß der Schwachstellen aufzudecken.
Resiliente Geschäftsmodelle haben viele Facetten
Aufgabe des Topmanagements ist es, aus der Vielzahl denkbarer Risiken diejenigen herauszufiltern, die das Unternehmen konkret gefährden. In der Regel gibt es nur wenige davon, ganz gleich, um welche Branche und welches Geschäftsmodell es sich handelt. Ein hoher Digitalanteil, ein starkes Asiengeschäft, robuste Lieferketten und eine Abwehrstrategie gegen Cyberattacken sind nur einige Bausteine für mehr Resilienz, die bei der Neuausrichtung von Geschäftsmodellen relevant sein können.
Da es keine hundertprozentige Absicherung gegen Risiken gibt, müssen Unternehmen ihre Risikoneigung sehr bewusst festlegen – und dann auch transparent machen. Anschließend gilt es, Stufenpläne dahin gehend festzulegen, was zu tun ist, wenn die Warnlampen auf Rot gehen.
Zugleich muss das Topmanagement Investoren und Stakeholder überzeugen und den Nachweis erbringen, dass sich eine höhere Resilienz über Konjunkturzyklen hinweg in einem steigenden Unternehmenswert niederschlägt. Im Idealfall wäre dies ein echter Perspektivwechsel.
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