Gastkommentar Warum heute auch Teile der Wirtschaftselite grün ticken

Janina Mütze ist Mitgründerin und Geschäftsführerin des digitalen Meinungsforschungsinstituts Civey. Bis 2019 war die studierte Volkswirtin zudem im Vorstand des Bundesverbands Deutscher Start-ups. Vom deutschsprachigen „Forbes“-Magazin wurde die 31-Jährige im Jahr 2018 in der Kategorie Technologie auf der Liste „30 unter 30“ geführt.
Gründerinnen und Gründer wählen grün – eine Aussage, die mich persönlich noch überraschte, als ich sie 2019 erstmals im Deutschen Startup Monitor gelesen habe. Schließlich gehörten Technologieunternehmen in den Jahren zuvor nicht unbedingt zur Stammwählerschaft der Ökopartei. Die jährlich erscheinende Studie des Bundesverbands Deutscher Startups hat auch 2020 bestätigt: Die wirtschaftsnahe Union und die FDP haben im Digitalumfeld das Nachsehen gegenüber den Grünen.
Sicherlich sind die jungen Unternehmerinnen und Unternehmer nicht repräsentativ für die gesamte Wirtschaft. Gründerinnen und Gründer beweisen aber stets ein gutes Gespür für Trends, die bleiben. Wer die Positionierung der Grünen verfolgt, kann über die Jahre Parallelen zwischen Technologieunternehmen und der Partei erkennen. Start-ups stellen das Identifizieren und Lösen eines Problems in den Mittelpunkt. Am Anfang zählt die große Vision. Nicht erst loslegen, wenn man auf alles Antworten parat hat. Think big!
Das erinnert an den Markenkern der Grünen. Während der Markenkern anderer Parteien zunehmend verschwimmt, avancierte das grüne Hauptanliegen, der Schutz des Klimas, zum Megatrend unserer Zeit. Nach 16 Jahren mit einer pragmatischen Kanzlerin ohne große Vision stellt sich die Frage: Kommt jetzt die Zeit der großen Ideen?
Das Potenzial der Grünen im Bund war jedenfalls noch nie so hoch wie heute. Das bestätigt ein Blick in die Daten des Online-Meinungsforschers Civey. Bei den Wählerinnen und Wählern unter 40 Jahren sind die Grünen schon länger die stärkste Partei. Auch bei den unter 50-Jährigen haben sie zeitweise die Nase vorn. Jeder zweite Deutsche befürwortet eine Regierungsbeteiligung der Grünen.
Die Zeiten, in denen sich nur urbane Besserverdiener oder ökologische Idealisten mit der Partei anfreunden konnten, sind damit vorbei. Erst die Start-ups und dann das ganze Land? Zumindest wünschen sich weite Teile der Gesellschaft eine grüne Politik.
Ein wichtiger Erfolgsfaktor bei Unternehmensgründungen ist das richtige Timing: Als Unternehmerin eine gute Idee zu haben, deren Zeit noch nicht gekommen ist, führt zum Scheitern. Die Grünen können aktuell auf ein positives Momentum setzen. Obwohl sie selbst in zahlreichen Landesregierungen mitentscheiden, profitieren sie vom wachsenden Unmut über die Corona-Politik im Bund. Seit Anfang des Jahres hat das Vertrauen in das Pandemie-Management in Deutschland spürbar nachgelassen.
Zwar kommt die Impfkampagne nun in Gang, eine Rückkehr in die Normalität scheint noch vor der Bundestagswahl im September möglich. Die Trägheit des Staates in der Krise, die verkrusteten Strukturen und ineffizienten Prozesse aber werden in Erinnerung bleiben. Die Menschen haben die fehlende Modernisierung in den vergangenen Monaten am schlechten Internet fürs Homeoffice, den fehlenden digitalen Konzepten in den Schulen oder beim Kontakt mit Ärztinnen und Ärzten selbst erlebt.
Die Grünen stehen für Erneuerung
Die Notwendigkeit der Erneuerung wurde spürbar. Und dafür stehen die Grünen. Sie werfen Union und SPD vor, das Land in den vergangenen Jahren nicht mutig reformiert, sondern nur mutlos verwaltet zu haben. Ihre Strategie, sich selbst als Innovator zu positionieren, könnte am Ende die entscheidenden Stimmen bringen – auch von Unternehmern.
Bei der Vorstellung ihres Wahlprogramms erläuterten die Grünen-Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck, wie sie die Defizite im Staat mit Innovation und Technologie lösen wollen. Außerdem bemühten sie sich, die Wirtschaft nicht zu verprellen. Als Erfolg können sie bereits verbuchen, dass der ganz große Aufschrei aus Unternehmen und Wirtschaftsverbänden ausblieb. Auch auf Länderebene legen die Grünen oft einen pragmatischen Umgang mit der Wirtschaft an den Tag.

Janina Mütze gehört zu den 100 Frauen, die Deutschland voranbringen.
Aber auch eigene Erfahrungen in Unternehmen spielen eine Rolle. Schließlich sind Nachhaltigkeit und Klimaschutz heute in vielen Unternehmen nicht mehr wegzudenken und fester Bestandteil wirtschaftlichen Handelns – zumal das auch immer mehr Verbraucherinnen und Verbraucher erwarten. Heute wünscht sich sogar jeder vierte Wirtschaftsentscheider nach der Bundestagswahl eine schwarz-grüne Koalition. Tatsächlich stellt sich nicht die Frage, ob nach der Wahl mehr grüne Politik zu erwarten ist, sondern welche Partei diese Politik entscheidend prägt.
Dennoch gibt es für die Grünen auch weiter große Herausforderungen. Wie in jeder guten Gründungsgeschichte wird die etablierte Konkurrenz aufmerksam, wenn sie merkt, dass das von den jungen Wilden etablierte Feld an Größe gewinnt. Heute findet man selbst in Programmen konservativer Parteien das Thema Nachhaltigkeit an prominenter Stelle.
Die Kompetenzwerte der Grünen steigen
Insbesondere CSU-Chef Markus Söder geriert sich zunehmend als Umwelt- und Naturschützer. Wenn er sich dabei fotografieren lässt, wie er einen Baum berührt, soll sich diese Szene im kollektiven Gedächtnis festsetzen und signalisieren: Umweltschutz und wirtschaftliche Prosperität müssen in Einklang gebracht werden. Der Versuch, die Grünen von der Mitte aus anzugreifen, um ihnen ihre „unique selling points“ zu nehmen, ist durchaus geschickt.
Denn so müssen die Wählerinnen und Wähler entscheiden, ob es überhaupt wichtig ist, das grüne Original zu wählen, wenn man von allem ein bisschen auch durch ein Votum für die CDU/CSU bekommen könnte. Bereits jetzt schreibt jeder fünfte Wahlberechtigte der Union die größte Umweltkompetenz zu. Darüber hinaus attestiert man der Union die größte Zukunftskompetenz.
Dennoch: Die Kompetenzwerte der Grünen steigen auch bei Themen, die im Vorfeld der Bundestagswahl große Bedeutung haben. So werden der Partei am ehesten die Modernisierung der Verwaltung und eine tief greifende Mobilitätswende zugetraut. Das Bild der grünen Innovatoren hat jedenfalls Ausbaupotenzial. Nimmt der grüne Wahlkampf mit diesem „Framing“ weiter Fahrt auf, könnte es für das Modernisierungsprojekt der Union, das CDU-Chef Armin Laschet ausgerufen hat, im September eng werden.
Am kommenden Montag entscheiden die Grünen, wer als Kanzlerkandidat oder Kanzlerkandidatin für sie antreten wird. 45 Prozent der potenziellen Grünen-Wählerinnen und -Wähler wünschen sich Annalena Baerbock. Interessant dabei: Ihr wird von den Medien häufig die höhere Fachkompetenz bescheinigt. Das passt. Denn dem grünen Wählerklientel geht es weniger um Personen als um Inhalte.
Start-ups belohnen Durchhaltevermögen
65 Prozent der Menschen, die sich vorstellen können, grün zu wählen, tun dies nur aus umweltpolitischen Gesichtspunkten. Die grüne Innovationsgeschichte muss deshalb immer auch eine umweltpolitische sein – egal, wer sie an vorderster Front erzählt.
Unabhängig davon, ob es die Grünen oder die Union in diesem Jahr ins Kanzleramt schaffen: Nachhaltigkeit und grüne Wirtschaftspolitik werden mit einziehen. Das beweist: Die Grünen hatten vor Jahrzehnten die richtige Vision und konnten diese Vision gegen alle Widerstände in der Gesellschaft mehrheitsfähig machen. Das Durchhaltevermögen, das es für den Weg brauchte, und der Weitblick werden zumindest von den Start-up-Gründerinnen und -Gründern aus eigener Erfahrung respektiert und belohnt.
Die Autorin: Janina Mütze ist Gründerin und Geschäftsführerin von Civey, einem der führenden Unternehmen für digitale Markt- und Meinungsforschung in Deutschland. Die studierte Volkswirtin ist zudem als Aufsichtsrätin und Beirätin in mehreren Unternehmen tätig. Zuvor war sie mehrere Jahre im Vorstand des Bundesverbands Deutsche Startups aktiv. Sie gehört zu den Top-100-Frauen, die Deutschland voranbringen (Handelsblatt-Ausgabe 5.3.2021).
Mehr: Baerbock oder Habeck: Die Antwort auf die K-Frage der Grünen naht
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