Gastkommentar Was Aufsichtsräte lernen müssen

Simone Menne ist Aufsichtsrätin bei der Deutschen Post DHL Group sowie bei Henkel, Johnson Controls International und Russell Reynolds. Außerdem ist sie Executive Vize President der American Chamber of Commerce Germany und betreibt eine Kunstgalerie in Kiel.
Um 75 Jahre alt zu werden, muss man jung bleiben und sich immer wieder neu erfinden. Dazu gehört die Bereitschaft, Dinge infrage zu stellen, sich regelmäßig anzupassen und gegebenenfalls zu ändern. In den vergangenen 75 Jahren haben das Handelsblatt und viele andere Unternehmen diese Herausforderungen erfolgreich bewältigt. Doch nun stehen wir vor weiteren, ambitionierten Aufgaben: Die Welt muss die Folgen der Pandemie meistern und nachhaltiger wirtschaften, um Klima und Biodiversität zu erhalten.
Außerdem beschleunigen sich die technologischen Entwicklungen. Es geht darum, auch für die nächsten 75 Jahre Strategien zu entwickeln.
Welche Rolle können Aufsichtsräte in diesem Zusammenhang spielen? Die Kontrollgremien haben sich in den vergangenen Jahrzehnten weiterentwickelt und müssen dies auch künftig tun. Eine Konzentration auf formelle Governance- und Compliance-Themen reicht nicht mehr aus.
Es geht darum, Unternehmen und Vorstände nicht nur zu kontrollieren, sondern bei Innovationen zu fordern und zu fördern.
Dazu haben Aufsichtsräte die Pflicht und die Möglichkeiten. Das Gremium sollte Gespräche mit internen und externen Experten führen, um sich ein möglichst umfassendes Bild etwa zu möglichen Risiken eines Unternehmens machen zu können. Dies gilt für operative, technologische und administrative Themen.
Außerdem empfiehlt sich ein regelmäßiger Abgleich mit Entwicklungen bei Start-ups, um herauszufinden, was dort neu oder besser gemacht wird. Wie der Vorstand muss auch der Aufsichtsrat regelmäßig der Frage nachgehen, was das Geschäftsmodell zerstören könnte – beispielsweise mit Blick auf aktivistische Investoren. Geklärt werden muss überdies, welche Trends, Technologien oder neue Plattformen disruptiv wirken. Entsprechende strategische Reaktionen sollten mit dem Vorstand erarbeitet werden, von der Weiterentwicklung des Geschäftsmodells bis zu Übernahmen oder Partnerschaften mit Wettbewerbern.
Aufsichtsräte sollten darüber hinaus eigenständige Gespräche mit allen Stakeholdergruppen führen, also mit Kunden, Verbänden, Kommunen und Mitarbeitern. Zu klären ist, welche Anforderungen sie an das Unternehmen und seine Produkte haben. Zusammen mit dem Vorstand sollte eine Unternehmenskultur geschaffen werden, die Innovation fördert.
Es geht also um Offenheit für Neuentwicklungen und gegebenenfalls darum, Risiken einzugehen und Bestehendes kritisch zu hinterfragen – was bei Investoren und Mitarbeitervertretern zunächst auf Ablehnung stoßen könnte. Zu klären ist, wie Innovation gemessen wird und wie man Mitarbeiter auf Innovation vorbereitet.
Eine wesentliche Anforderung an Aufsichtsräte ist, sich am Prinzip der Nachhaltigkeit zu orientieren, sowohl in ökologischer und sozialer Hinsicht als auch mit Blick auf die Governance. Entsprechende Kennzahlen müssen erstellt und kommuniziert werden. Die Beschäftigung mit Finanzkennzahlen und Prozessen der internen Kontrolle und Compliance sind nicht mehr ausreichend. Aufsichtsräte müssen neue Technologien wie Künstliche Intelligenz und Data Analytics selbst nutzen und damit arbeiten. Das gilt ebenso für Real Time Data und Simulationsmodelle, um insbesondere Risiken zu erkennen und Gegenmaßnahmen ergreifen zu können.
Es gibt oft keine Eindeutigkeit
Insgesamt muss die Arbeit der Aufsichtsräte weniger formal und passiv und mehr diskursiv und aktiv werden. Dabei dürfen die fundamentalen Aufgaben der Kontrolle und Governance selbstverständlich nicht vernachlässigt werden. Sich alleine auf diese fundamentalen Aufgaben zu konzentrieren, reicht angesichts der heutigen Herausforderungen aber nicht mehr aus. Deshalb stellt sich die Frage: Wie sollten Aufsichtsräte besetzt werden, um den neuen Anforderungen genügen zu können?
In jedem Fall müssen die Mitglieder des Kontrollgremiums sich zusätzliche Kompetenzen aneignen. Dazu gehört die Fähigkeit, sich an einem künftigen Zielbild zu orientieren und dieses kontinuierlich zu bewerten. Die aktuelle Lage des Unternehmens sollte also immer wieder mit dem Zukunftsbild abgeglichen werden.
Aufsichtsräte müssen in der Lage sein, mit mehrdeutigen Situationen, Informationen, widersprüchlichen Handlungsweisen und Perspektiven umzugehen – diese auszuhalten und sich gleichzeitig eine profunde Meinung zu bilden und Entscheidungen zu treffen. Unsere Arbeits- und Lebensrealitäten sind nun einmal von Widersprüchen und unterschiedlichen Interessen geprägt. Es gibt oft keine Eindeutigkeit, keine Gradlinigkeit, keine unumstößliche Verlässlichkeit.
Naturgemäß wünschen sich Aufsichtsgremien aber Eindeutigkeit und Gradlinigkeit. Menschen, auch Aufsichtsräte, reagieren auf Komplexität oft mit dem Wunsch, Dinge einfacher machen zu wollen. Dabei übersehen sie, dass man Kompliziertem zwar mit Vereinfachung begegnen kann, die Bewältigung komplexer Situationen aber meist Vielfalt verlangt. Begegnet man Komplexität mit Vielfalt, kann daraus eine Art „neue Einfachheit“ resultieren: So entstehen durch das vielfältige Zusammenwirken von Dingen nicht nur neue Verbindungen und Abkürzungen, es ergeben sich auch Chancen, Neues zu entdecken.
Es sollte messbare Erfolgskriterien geben
Derzeit allerdings sehen sich viele Aufsichtsräte kaum in der Lage, Mehrdeutigkeit zuzulassen. Das muss sich ändern, wenn das Kontrollgremium zusammen mit dem Vorstand die richtigen, zukunftsweisenden Entscheidungen treffen soll. In Aufsichtsräte müssen also Frauen und Männer einziehen, die diese unterschiedlichen und zusätzlichen Perspektiven in das Unternehmen hineintragen. Aus meiner Sicht ist es in diesem Zusammenhang erforderlich, mindestens 50 Prozent der Posten mit diversen Menschen zu besetzen.
Gleichzeitig müssen natürlich auch die fachliche Expertise und Diversität garantiert sein, um neue Entwicklungen und Anforderungen in verschiedenen Fachgebieten wie Finanzen, Technologien, Prozessen und Personal in das Gremium einzubringen. Ebenso wichtig aber ist ein ganzheitliches Denken, welches nicht in linearen Abfolgen arbeitet und Einzelteile des Systems betrachtet, sondern den Gesamtzusammenhang und die Wechselwirkungen im System integriert. Genau wie bei Mitarbeitern und Vorständen ist deshalb auch bei Aufsichtsräten ständige Weiterbildung unverzichtbar.
Sollte es für Aufsichtsräte messbare Erfolgskriterien geben? Selbstverständlich ja. Auch die Mitglieder dieses Gremiums müssen sich einer Kontrolle ihrer Leistungen stellen. Dies geschieht schon heute über die Bewertung durch Stimmrechtsberater und Effizienzprüfungen. Aber klarere Erfolgskriterien nicht zuletzt bei den Zielen Umwelt, Soziales und Unternehmensführung werden in Zukunft wichtig und notwendig sein, um die Transparenz der Arbeit und die Leistungsfähigkeit des Gremiums zu überprüfen und gegebenenfalls zu verbessern.
Alles in allem sollen Aufsichtsräte also dazu beitragen, Unternehmen zu unterstützen und sie zukunftsfähig aufzustellen – damit die Unternehmen noch weitere 75 Jahre Erfolgsgeschichte schreiben können.
Mehr: Investor Cevian will Managergehälter an Nachhaltigkeitsziele koppeln.
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