Gastkommentar: Wenn die Demokratie nicht arbeitnehmerfreundlich ist, wird sie sterben

Der Rechtsruck in Europa ist unübersehbar. Und solange wir die Ursachen für diesen Trend nicht verstehen, werden die Bemühungen, die Demokratie vor dem Zusammenbruch der Institutionen und vor Extremismus zu schützen, kaum erfolgreich sein. Die einfache Erklärung für die Krise der Demokratie ist, dass das System nicht gehalten hat, was es versprach.
In den USA sind die realen (inflationsbereinigten) Einkommen am unteren und mittleren Ende der Verteilung seit 1980 kaum gestiegen, und die gewählten Politiker haben wenig dagegen unternommen. Auch in weiten Teilen Europas ist das Wirtschaftswachstum, insbesondere seit 2008, eher schwach.
Die Anzahl derjenigen, die die Demokratie nicht mehr unterstützen will, wächst
Das westliche Modell der liberalen Demokratie sollte für Arbeitsplätze, Stabilität und hochwertige öffentliche Güter sorgen. Während es nach dem Zweiten Weltkrieg größtenteils erfolgreich war, ist es seit etwa 1980 in fast allen Bereichen hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Politiker der Linken wie der Rechten warben weiterhin für eine Politik, die von Experten gestaltet und von hochqualifizierten Technokraten ausgeführt wurde.
Einerseits führte diese zu gemeinsamem Wohlstand, doch andererseits schuf sie die Voraussetzungen für die Finanzkrise 2008, die den noch verbleibenden schönen Schein des Erfolgs bröckeln ließ. Die meisten Wählerinnen und Wähler kamen zu dem Schluss, dass sich die Politiker mehr um Banker als um Arbeitnehmer kümmern.
Wähler neigen dazu, demokratische Institutionen zu unterstützen, wenn sie unmittelbar Erfahrungen mit Demokratien gemacht haben, die Wirtschaftswachstum, eine nicht korrupte Regierung, soziale und wirtschaftliche Stabilität, öffentliche Dienstleistungen und geringe Ungleichheit bieten. Es überrascht daher nicht, dass eine Nichterfüllung dieser Bedingungen zu einem Verlust an Unterstützung führt.
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Die demokratischen Führer haben zunehmend den Bezug zu den tieferen Sorgen der Bevölkerung verloren. In Frankreich zum Beispiel spiegelt dies teilweise Präsident Emmanuel Macrons autoritären Führungsstil wider. Es zeigt aber auch einen Verlust des Vertrauens in Institutionen und die Rolle der sozialen Medien und anderer Kommunikationstechnologien bei der Förderung polarisierender Positionen.
Europas Führung wird sich erneut dem Aufbau einer gerechten Wirtschaft verpflichten müssen
Politische Entscheidungsträger und Mainstream-Politiker waren zudem ein Stück weit unsensibel für die wirtschaftlichen und kulturellen Turbulenzen, die Masseneinwanderung mit sich bringt. In Europa äußerte ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung in den vergangenen zehn Jahren seine Besorgnis über Masseneinwanderung aus dem Nahen Osten, aber Politiker der Mitte (insbesondere Mitte-links) haben sich des Themas nur zögerlich angenommen.
Dies bot einwanderungsfeindlichen Rand-Parteien wie den Schweden-Demokraten und der niederländischen „Partei für die Freiheit“ eine große Chance, die inzwischen formelle oder informelle Koalitionspartner der Regierungsparteien geworden sind.
Hoffnung besteht zweifellos: Die Demokratie ist nach wie vor am besten dafür gerüstet, mit diesen Problemen umzugehen. Historische und aktuelle Belege machen deutlich, dass nicht-demokratische Regime weniger auf die Bedürfnisse ihrer Bevölkerung eingehen und benachteiligten Bürgern weniger wirksam helfen. Und was auch immer das chinesische Modell versprechen mag – nicht-demokratische Regime verringern auf lange Sicht das Wachstum.
Nichtsdestotrotz werden sich demokratische Institutionen und die politische Führung erneut dem Aufbau einer gerechten Wirtschaft verpflichten müssen. Das bedeutet, dass Arbeitnehmern und Normalbürgern Vorrang vor multinationalen Unternehmen, Banken und globalen Konzernen eingeräumt und das Vertrauen in die richtige Art von Technokratie gefördert werden muss.
Es wird nicht reichen, unnahbare Beamte politische Maßnahmen im Interesse globaler Unternehmen durchsetzen zu lassen. Um Klimawandel, Arbeitslosigkeit, Ungleichheit, Künstliche Intelligenz (KI) und die Verwerfungen der Globalisierung anzugehen, müssen Demokratien Expertenwissen und öffentliche Unterstützung zusammenbringen.
Das wird nicht einfach sein, denn viele Wähler misstrauen den Parteien der Mitte. Doch könnten diese Parteien mit einem Manifest beginnen, das blinde Gefolgschaft gegenüber global agierenden Unternehmen und unregulierte Globalisierung ablehnt – und zugleich einen klaren und umsetzbaren Plan anbieten, wie sich Wirtschaftswachstum und geringere Ungleichheit miteinander kombinieren lassen. Außerdem sollten sie einen Mittelweg zwischen Offenheit und einer vernünftigen Begrenzung der Migration finden.



Wenn die Demokratie die Unterstützung und das Vertrauen der Öffentlichkeit zurückgewinnen will, muss sie arbeitnehmerfreundlicher und egalitärer werden.
Der Autor: Daron Acemoglu ist Wirtschaftsprofessor am Massachusetts Institute of Technology (MIT).
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