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GastkommentarWer braucht 200 Lenkradvarianten?

Hiesige Hersteller müssen Komplexität reduzieren und kooperieren, statt Gehorsam zu fordern. Sonst haben sie im Wandel keine Chance, mahnen Andreas Herrmann und Knut Krümmel. 09.09.2025 - 04:07 Uhr Artikel anhören
Die Autoren: Andreas Herrmann (r.) ist Direktor des Institute for Mobility an der Universität St. Gallen.
Knut Krümmel ist Senior Partner Mobility der Porsche Consulting. Foto: bloomberg / pr [M)

Die Automobilindustrie durchlebt den gravierendsten technologischen Wandel in ihrer Geschichte. Der Verbrennungsmotor wird über kurz oder lang durch den Elektroantrieb ersetzt. Statt um Bleche, Kurbelwellen und Kabel geht es zukünftig um Batteriezellen, Sensoren und Software.

Tech-Firmen stürmen den Automarkt und forcieren das autonome Fahren. Den Durchbruch werden wir in Kombination mit Mobilitätsplattformen in diesem Jahrzehnt sehen. Als ob das alles nicht schon genug wäre: Amerikanische und vor allem chinesische Wettbewerber drängen mit Macht in den Markt.

Dies ist kein allmählicher Wandel, sondern eine multiple Disruption, weshalb es in den Chefetagen der Autobauer eine Revolution braucht. Wenn die Rahmenbedingungen sich radikal ändern, ist ein konsequentes Umsteuern im Unternehmen selbst unerlässlich. Neustart und echte Veränderung muss jetzt angegangen werden. Fünf Empfehlungen dazu.

Deutsche Autobosse sollten fünf Punkte ändern

Erstens: Die Komplexität muss deutlich reduziert werden, um die begrenzten Ressourcen auf die Zukunftsthemen zu lenken. In der Tech-Branche regiert das Gesetz der gnadenlosen Skalierung. Wer braucht heute noch eine Handschaltung oder 200 Lenkradvarianten?

Mit maximaler Kombinatorik im Namen der Kundenindividualität kommen deutsche Premiumhersteller schnell auf vier Milliarden Ausstattungsmöglichkeiten. Andere machen es besser: Für den SU7 von Xiaomi kann man aus „lediglich“ 87.000 Kombinationen wählen.

Während BYD pro Fahrzeugmodell im Durchschnitt über 100.000 Fahrzeuge verkauft, zelebriert die Volkswagengruppe mit 50.000 Exemplaren die Strategie der Variationen. Offenbar haben sich insbesondere die deutschen Hersteller in einem Modellwettbewerb verrannt, der gigantische Komplexitätskosten in Entwicklung, Herstellung und Vertrieb verursacht.

Hier kann aufgeräumt werden, ohne substanzielle Absatz- und Umsatzeinbußen zu erleiden – Kosten runter gleich wettbewerbsfähige Preise.

Zweitens: Die Entwicklung von Fahrzeugen dauert bei den europäischen Herstellern zweimal länger und ist viermal teurer als bei der asiatischen Konkurrenz. Endlose Abstimmungsrunden, komplizierte Entscheidungsprozesse, verstaubte Anforderungskataloge und immer noch mehr Varianten und Funktionalitäten.

Was es braucht, ist mehr „China speed“ und weniger „Dipl.Ing.-Andante“: Radikale Anpassungsfähigkeit bei tiefgreifend geänderten Kundenanforderungen statt inkrementeller Weiterentwicklungen.  Entertainment im Fahrzeug statt vieler komplizierter Funktionalitäten. Rasche Facelifts und kontinuierliche Software-Updates statt langwieriger Entwicklungszyklen.

Weniger Befehl und Gehorsam

Drittens: Das Grundprinzip der Fertigung deutscher Hersteller besteht im Kern darin, das Auto zu zerlegen und die einzelnen Komponenten an Zulieferer auszulagern, um die eigene Wertschöpfungstiefe zu minimieren.

Die Folge: Eine kaum mehr überschaubare Anzahl von Zulieferern, die in Anbetracht der Kosten- und Investitionsvorgaben durch die Hersteller allesamt ums Überleben kämpfen. Kein Wunder also, dass im Jahr 2022 in Deutschland über 200 Zulieferer eines Autobauers in Konkurs gegangen sind, während ein japanischer Hersteller gleichzeitig seinen Zulieferern sieben Prozent des Gewinns als Zeichen für eine gute Zusammenarbeit in schwierigen Zeiten ausgeschüttet hat.

Weniger Befehl und Gehorsam, dafür mehr Kooperation und Vertrauen:  Gerade in der Ära des „Software-Defined Vehicle“ ist die völlig neue Gestaltung der Wertschöpfungskette das Gebot der Stunde.

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Viertens: Europa reguliert sich zu Tode und man bekommt das Gefühl, die europäische Autoindustrie hat sich bei der eigenen Administration anstecken lassen. Es gilt der erste Hauptsatz der Verwaltungsdynamik: „Bürokratie erzeugt mehr Bürokratie“.

Sehr viel Klein-Klein und sperrige Paragrafen in der Steuerung dort, wo es zukunftsweisende Rahmenbedingungen bräuchte. So zementiert man den Stillstand, statt der so dringend benötigten Aufbruchstimmung.

Die Automobilhersteller berichten, dass jeder Mitarbeitende im Schnitt einen Tag pro Woche mit Bürokratie befasst ist. Schlimmer noch: Etwa 80 Prozent der Unternehmen benötigen Dienstleister, um sich im Dickicht der externen Vorgaben zurechtzufinden oder gar eigene zu erzeugen.

Es geht nicht um „Laisser-faire“ zu Lasten von Qualität und Sicherheit, sondern darum, dass sich die Kraft und Dynamik dieser Industrie entfalten kann.

Fünftens: Es braucht ein völlig neues Mindset. Führung, Organisation und Kultur sind auf die neue Zeit auszurichten.

Aus den nostalgischen und teilweise verzweifelten „Car Guys“ müssen mutige und optimistische „Tech Guys“ werden, die bereit sind, alte Industrierituale über Bord zu werfen, den Prozess einer schöpferischen Zerstörung einzuleiten und voranzutreiben und ganz wichtig: völlig neu zu lernen.

Dieser Wandel lässt sich nur meistern, wenn alte Gewissheiten, Tugenden und Fähigkeiten auf den Prüfstand kommen, auf allen Ebenen in den Unternehmen.

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Für all das braucht es eine Revolution in den Chefetagen, Appelle und Anweisungen an die Mitarbeitenden helfen nicht. Es muss jeden Tag vorgelebt werden. Drückt die Reset-Taste, bevor es andere für euch tun!

Die Autoren:
Andreas Herrmann ist Direktor des Institute for Mobility an der Universität St. Gallen.
Knut Krümmel ist Senior Partner Mobility der Porsche Consulting.

Mehr: Elektro-Absatz der deutschen Hersteller boomt – die Gewinner und Verlierer

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