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Gastkommentar Wie der Westen in Afghanistan versagt hat

Die USA und die EU sind mit einer fehlgeleiteten und idealistischen Außenpolitik gescheitert, meinen Sigmar Gabriel und Shimon Stein. Sie plädieren für Realpolitik.
19.08.2021 - 14:51 Uhr Kommentieren
Sigmar Gabriel (li.) ist Publizist und Aufsichtsrat bei der Deutschen Bank und bei Siemens Energy. Er war von 2009 bis 2017 Vorsitzender der SPD und von 2013 bis 2018 Vizekanzler. Shimon Stein ist Senior Fellow am Institut für Nationale Sicherheitsstudien an der Universität Tel Aviv. Er war von 2001 bis 2007 Botschafter Israels in Deutschland. Quelle: Imago, dpa, Montage
Die Autoren

Sigmar Gabriel (li.) ist Publizist und Aufsichtsrat bei der Deutschen Bank und bei Siemens Energy. Er war von 2009 bis 2017 Vorsitzender der SPD und von 2013 bis 2018 Vizekanzler.
Shimon Stein ist Senior Fellow am Institut für Nationale Sicherheitsstudien an der Universität Tel Aviv. Er war von 2001 bis 2007 Botschafter Israels in Deutschland.

(Foto: Imago, dpa, Montage)

Verzweifelte Menschen, die sich auf dem Rollfeld des Kabuler Flughafens an ein amerikanisches Transportflugzeug klammern. Fassungslose Ortskräfte der Bundeswehr, die per Handy-Video aus ihrem Versteck Hilferufe schicken, jubelnde „Gotteskrieger“ der Taliban, die im verwaisten Präsidentenpalast ihre Herrschaft über Afghanistan zelebrieren. Die Bilder, die wir jetzt sehen und noch sehen werden, zeigen die menschlichen Tragödien in diesem Land.

Und es ist eine große Schande, dass es den westlichen Verbündeten nicht möglich war, einen sinnvoll koordinierten Rückzug zu organisieren und jeder ihrer afghanischen Helferinnen und jedem Helfer und deren Familienangehörigen eine sichere Ausreise zu ermöglichen.

Niemand konnte ernsthaft überrascht sein, dass der amerikanische Präsident Joe Biden den von seinem Vorgänger Donald Trump beschlossenen vollständigen Rückzug aus Afghanistan in die Tat umsetzen würde. Zu groß ist die innenpolitische Zustimmung, nach 20 Jahren den längsten Kriegseinsatz in der Geschichte der USA zu beenden. Zu sehr ist Bidens Agenda innenpolitisch geprägt. Und außenpolitisch konzentriert er sich und die militärischen Mittel seines Landes völlig auf die Auseinandersetzung mit China.

Vermutlich werden auch die Bilder der jubelnden Taliban und ihrer erwartbaren Gewalt gegen all jene, die sich ihnen nicht bedingungslos unterordnen, daran nichts Grundlegendes ändern. „Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende“ scheint das zynische Motto dieser Tage zu sein.

Und doch ist der eigentliche Skandal, dass dieser Abzug offenbar völlig unkoordiniert und planlos erfolgte und sich in den vergangenen Monaten anscheinend niemand Gedanken über die Frage machte, was wohl die Folge des Abzugs der internationalen Militärverbände für die Menschen in Afghanistan bedeuten würde. Ausgerechnet der in der Außenpolitik besonders erfahrenen US-Regierung war eine Koordinierung und gemeinsame Planung des Abzugs mit den Verbündeten offenbar völlig gleichgültig. Sie wurden vor vollendete Tatsachen gestellt.

Und mehr noch: Die USA haben auch eine Gelegenheit verpasst, mit China und auch Russland zusammenzuarbeiten. Denn keines dieser Länder hat ein Interesse daran, dass Afghanistan wieder ein „failed state“ wird, der erneut zur Brutstätte des internationalen Terrorismus wird. Möglicherweise hätte China sogar der Entsendung von Friedenstruppen zugestimmt, die gemeinsam mit den Luftstreitkräften der USA und der Nato die völlige Übernahme Afghanistans durch die Taliban hätten aufhalten können.

Die europäischen Nato-Staaten sind jetzt gefragt

Und wenn schon die USA nicht mit den Nachbarn Afghanistans sprechen, so wäre das auch eine Aufgabe für die europäischen Partner in der Nato – insbesondere für uns Deutsche gemeinsam mit Frankreich und Großbritannien. Sie könnten eine Luftbrücke nach Europa organisieren oder eine gemeinsame diplomatische Mission zu anderen Staaten, die dauerhafte Instabilität und die Rückkehr des Terrorismus vermeiden wollen.

Dazu zählen auch Indien, Iran, die Türkei und schwierige Nachbarn wie Pakistan. Und natürlich sollte es sobald wie möglich eine internationale Konferenz geben, die eine humanitäre, wirtschaftliche und politische Stabilisierung zum Ziel hat. Gelingt das nicht, kann sich Europa schon einmal auf die nächste Flüchtlingswelle vorbereiten.

Keine der dringend erforderlichen Initiativen scheint nach der Ankündigung zum Truppenabzug im April durch die USA vorbereitet worden zu sein. Stattdessen stolpern die Europäer wieder einmal hilflos durch die Kulissen. Alle tun so, als ob sie von der Entwicklung überrascht wären.

Wenn das stimmen sollte, dann können wir die Nachrichtendienste der USA und auch Europas getrost auflösen. Denn die waren offenbar der Überzeugung, dass die Hauptstadt Kabul gegen die Taliban zwei bis drei Jahre lang verteidigt werden könnte. Auch dem deutschen Bundesaußenminister Heiko Maas scheint diese Einschätzung vorgelegen zu haben, als er sich im Juni im Bundestag optimistisch über die Verteidigungsfähigkeit von 350.000 afghanischen Soldaten gegenüber 85.000 Kämpfern der Taliban äußerte.

Die Seifenblase europäischer „Autonomie“ ist geplatzt

Tatsächlich waren es gerade mal zwei bis drei Tage vom Marsch der Taliban auf Kabul bis zum Fall der Hauptstadt. Nach 20 Jahren militärischer und geheimdienstlicher Präsenz in Afghanistan und rund 100 Milliarden Dollar Ausgaben für die afghanische Armee gab es weder bei den USA noch bei der Nato offenbar auch nur im Ansatz ein Verständnis für Moral und Kampffähigkeit der - von ihnen selbst ausgebildeten - afghanischen Truppen. Oder noch schlimmer: Alle kannten deren Zustand, verschwiegen ihn aber, um den Abzug aus Afghanistan möglichst rasch durchzuziehen.

Das derzeitige folgenlose Lamento über die Entwicklungen in Afghanistan ist stattdessen ein hörbares Zeugnis der europäischen Bedeutungs- und Hilflosigkeit. Die seit Monaten immer größer werdende Seifenblase europäischer „Autonomie“ ist geplatzt. Und nicht zuletzt sind wir Zeugen für das Versagen der Nato, in deren Verantwortung der Militäreinsatz in Afghanistan ja stand und die ihn geordnet hätte zu Ende bringen müssen. In Wahrheit dachte jeder nur an sich selbst. Gesiegt haben nicht nur die Taliban, sondern auch der nationale Egoismus.

Und so fiel den neuen radikalislamischen Machthabern, die das Land auf Motorrädern und Pick-ups einnahmen, gleich das teure Waffenarsenal der untergegangenen afghanischen Armee in die Hände: Humvee-Geländewagen, Black-Hawk-Kampfhubschrauber, Kampfjets, Artillerie-Geschütze sowie Sturmgewehre, Handgranaten und Munition.

So ist Afghanistan in jeder Hinsicht eine katastrophale Niederlage. Sicher ist nicht einmal, dass die islamistischen Terroristen nicht zurückkehren. Selbst wenn die Taliban die Rückkehr der Terroristen nicht begrüßen würden, so dürften sie nicht in der Lage sein, ihr Territorium zu kontrollieren.

Das Projekt des „Nationbuildings“ ist gescheitert

Destabilisierte Staaten und Regionen entwickeln eine große Anziehungskraft für Dschihadisten aus der ganzen Welt. Und noch stärker als am Beispiel des Iraks zeigt sich, dass das idealistische Projekt des „Nationbuildings“ scheitert, wenn es nicht in der betroffenen Bevölkerung und ihren politischen und wirtschaftlichen Eliten den Willen gibt, einen funktionierenden Staat mit gesellschaftlicher Teilhabe aufzubauen. Da hilft auch ein noch so umfangreicher Militäreinsatz nicht.

Die entscheidende Frage lautet nun: War das Scheitern vorhersehbar und deshalb vermeidbar? Vermutlich ja, denn in der jüngeren Geschichte gab es nur zwei Beispiele, in denen bewaffnete Interventionen auch Ausgangspunkt einer gesellschaftlichen Modernisierung und Demokratisierung waren: Japan und (West-)Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber die damaligen wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und staatlichen Ausgangsvoraussetzungen waren vollständig anders als die in Afghanistan.

Dass dieses Land, geprägt durch seine Stammeskulturen, nicht durch Europäer zu erobern oder zu beherrschen ist, wusste schon Friedrich Engels. Er schildert 1857, wie gegen die kurze britische Herrschaft 1841 in Afghanistan „ein Aufstand dem anderen“ folgte und schließlich der Versuch der Besatzer 1842 endgültig scheiterte, „in Afghanistan eine ihrer Kreaturen auf den Thron zu setzen“.

Der demokratische Westen ist gut beraten, sich in Zukunft weniger anspruchsvolle Ziele zu setzen. So schön sich eine idealistische und werteorientierte Außenpolitik auch im Inland anhören und auf Zustimmung treffen mag: In der wirklichen Welt ist es gut, sich auf die eigenen Interessen zu begrenzen. Das nennt man Realpolitik.

Sigmar Gabriel ist Publizist und Aufsichtsrat bei der Deutschen Bank und bei Siemens Energy. Er war von 2009 bis 2017 Vorsitzender der SPD und von 2013 bis 2018 Vizekanzler.
Shimon Stein ist Senior Fellow am Institut für Nationale Sicherheitsstudien an der Universität Tel Aviv. Er war von 2001 bis 2007 Botschafter Israels in Deutschland.

Mehr: „Wir haben in Afghanistan eine korrupte Klasse gefüttert“ – Politikwissenschaftler Carlo Masala, Professor an der Bundeswehr-Universität München, im Interview

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