Gastkommentar: Wie die EU fit für die Zukunft werden kann

Der Druck auf die Europäische Union (EU) steigt. Sie muss sich reformieren und die Liste der Vorhaben ist lang. Die Kriege in der Ukraine und in Gaza, die Spannungen zwischen China und den USA sowie die dortigen innenpolitischen Kämpfe zeigen, dass die EU in ihre Verteidigungsfähigkeit investieren muss. Der europäische Binnenmarkt und die Währungsunion müssen gestärkt werden.
Damit auch nächste Generationen in Wohlstand und Sicherheit leben können, muss die Zwillingstransition (grün und digital) gemeistert werden. Zudem wird sich die EU in den kommenden Jahren bis auf 30 Mitgliedstaaten erweitern. Will sie handlungsfähig bleiben, müssen ihre Entscheidungsprozesse überholt werden.
Weil die Aufgaben der EU immer dringlicher werden, muss sie auch demokratischer werden
Da die Aufgaben der EU immer umfassender und dringlicher werden, muss sie auch demokratischer werden. Bisher sieht es so aus: Das Interesse an den Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) ist gering, entsprechend ist die Wahlbeteiligung. Ihr Ergebnis bestimmt zwar die Zusammensetzung des Parlaments, hat aber kaum Einfluss auf die Ernennung der Europäischen Kommission und ihrer Präsidentin. Jetzt ist die Gelegenheit, das zu ändern, und die europäischen Staats- und Regierungschefs sollten sie nutzen.
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Frühere Kommissionspräsidenten wie Jean-Claude Juncker oder Manuel Barroso waren in der breiten Öffentlichkeit kaum bekannt. Das ist nun anders. Unsere aktuelle EU-weite eupinions-Umfrage zeigt, dass die amtierende Präsidentin, Ursula von der Leyen, bekannt ist wie kein EU-Politiker vor ihr. Nachdem sie in ihrer ersten Amtszeit zwei Großkrisen managen musste, kennen 75 Prozent ihren Namen und erkennen ihr Bild. Ihren Vorgänger Jean-Claude Juncker konnten nur 40 Prozent identifizieren.
Dabei ist von der Leyen keineswegs unumstritten. Ihre Tendenz, ohne Absprache zu handeln, verärgert immer wieder andere europäische Spitzenpolitiker. Als sie beispielsweise im Herbst 2023 unangekündigt nach Israel reiste und dem Land bedingungslose Unterstützung zusagte, zog sie die Empörung einiger europäischer Mitgliedstaaten auf sich, die diese Position nicht teilten und sie scharf wissen ließen, dass sie ihr Mandat überschritten habe. Auch löst ihre Beziehung zu manchen europäischen Rechtspopulisten Irritationen aus.
Ein Erneuerungsprozess à la Jacques Delors wäre für die EU wünschenswert
Gleichzeitig wird von der Leyen aller Voraussicht nach trotz ihres gestärkten öffentlichen Profils nicht in der Lage sein, der Koalition aus europäischen Konservativen, Liberalen und Sozialdemokraten, die sie 2019 ins Amt gewählt hat und seitdem stützt, eine erneute Mehrheit im EP zu sichern. Stattdessen wird wieder einmal ein Rechtsruck vorhergesagt, der das Parlament weiter zersplittern und schwächen würde.
Dennoch bleibt es dabei: Die EU-Kommission ist entscheidend für den Erfolg gemeinsamer europäischer Politik. Ihre Leitung muss kraftvoll auftreten können. Natürlich bedarf es durchsetzungsstarker politischer Persönlichkeiten an ihrer Spitze, aber diese müssen auch über ein institutionell starkes und demokratisch legitimiertes Mandat verfügen.
In ihrer zweiten Amtszeit könnte sich die christdemokratische von der Leyen an ihrem berühmtesten Vorgänger, dem französischen Sozialisten Jacques Delors, orientieren. In seiner zweiten Amtszeit stieß er einen Prozess an, der den Binnenmarkt und die Währungsunion begründete und schließlich 1992 in der bisher weitreichendsten institutionellen Reform der EU, dem Vertrag von Maastricht, mündete. Von der Leyen sollte eine vergleichbar ehrgeizige Reformagenda formulieren und für breite Unterstützung bei den europäischen Staats- und Regierungschefs, innerhalb ihrer EU-Kommission sowie bei den politischen Fraktionen im Europäischen Parlament sorgen.
Diese Reform muss die EU fit machen für die Zukunft: Das heißt, dass sie institutionell entscheidungsfähig bleibt, auch wenn sie weitere Mitglieder aufnimmt, und dass sie anpassungs- und handlungsfähig ist, was auch immer die Zukunft bringt.
Grundsätzlich sind Reformen mit 27 Mitgliedstaaten sicherlich schwerer umzusetzen als zu Delors Zeiten, als die EU nur zwölf Mitglieder hatte. Aber von der Leyen hat während der Pandemie und im Ukrainekrieg bewiesen, dass sie und ihr Team vor großen Aufgaben nicht zurückschrecken. Zudem kann sie sich darauf berufen, dass eine große Mehrheit der Europäer sie unterstützt.
Natürlich wird keine Einzelreform, egal wie gut durchdacht und weitreichend, die EU umgehend ihrer Komplexität berauben. Der Weg der Umsetzung ist oft länger als der der Konzeption. Statt aber auf die nächste Großkrise zu warten, sollte sich die europäische Politik jetzt an die Arbeit machen. Der kürzlich verstorbene Delors hat dazu das passende Motto hinterlassen: „Auf geht’s, Europa. Nur Mut. Dein Frühling liegt immer vor dir.“



Die Autoren:
Catherine de Vries ist Dekanin für Internationale Beziehungen und Professorin für Politikwissenschaft an der Bocconi-Universität in Mailand.
Isabell Hoffmann ist Senior Expert Europäische Integration im Programm Europas Zukunft und Projektleiterin von eupinions, dem europäischen Meinungsforschungsprojekt der Bertelsmann Stiftung.
Simon Hix ist Inhaber des Stein-Rokkan-Lehrstuhls am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz.
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