Gastkommentar Wir brauchen Maske, Abstand, Arbeitskampf

Jörg Hofmann ist seit Oktober 2015 Erster Vorsitzender der IG Metall. Der Diplom-Ökonom verantwortet die grundsätzliche Ausrichtung der IG Metall und die Tarifpolitik. Der Sozialdemokrat ist Mitglied des Aufsichtsrats bei Volkswagen und Bosch.
Passt eine Tarifauseinandersetzung in diese Pandemie-Zeit? Kaum eine Frage wurde mir in der letzten Zeit häufiger gestellt. Meine feste Überzeugung ist: In einer funktionierenden Tarifpartnerschaft gibt es keinen falschen Zeitpunkt, wenn es darum geht, drängende Fragen mit einer Fortentwicklung der Tarifverträge für die Metall- und Elektroindustrie zu beantworten. Genau das tun wir.
So wie wir zu Beginn der Pandemie mit dem Solidartarifvertrag durch schnelle Regelungen zur Kurzarbeit, Beschäftigungssicherung und zum Liquiditätserhalt Lösungen gefunden haben, die Betriebe und Beschäftigten Sicherheit geben konnten. Heute hat sich die Mehrzahl der Betriebe aus der tiefen Krise herausgearbeitet, weil ein starkes V den Konjunkturverlauf der Industrie im zweiten Halbjahr 2020 prägte.
Wir leben aber weiter in einer Zeit sich beschleunigender technologischer Transformation und sozialer Umbrüche. Die Menschen brauchen dringender denn je Sicherheit und tragfähige Perspektiven für die Zukunft.
Genau an diesem Punkt setzen wir mit unseren Tarifbewegungen an. Arbeitsplätze zu sichern und Perspektiven für die Zukunft zu schaffen steht für uns an erster Stelle. Das Ziel ist, eine zukunftsfähige Industrie und industrielle Wertschöpfung in Deutschland zu halten. Und so den Beschäftigten die Sicherheit zu geben, dass sie auch morgen noch gute Arbeit haben werden.
Wir wollen und wir müssen das jetzt angehen. Die Arbeitgeber zeigen daran in den Verhandlungen bisher wenig Interesse. Wir müssen also entschiedener auftreten. Der Frust der Beschäftigten über die mangelnde Gestaltungsbereitschaft der Arbeitgeber ist groß. Mit den Warnstreiks zeigen sie: „So kann es nicht weitergehen, wir wollen sehen, dass etwas passiert."
230.000 Warnstreikende allein in der ersten Woche – und das unter Corona-Einschränkungen – sprechen für sich. Im Übrigen zeigen die Warnstreiks auch, dass trotz begründeter Eingriffe in das Versammlungsrecht das Grundrecht auf Streik nicht in der Substanz gefährdet ist. Die Kombination Maske, Abstand, Arbeitskampf bringt neue, kreative und durchaus wirksame Formen des öffentlichen Drucks hervor.
Die Industrie steckt mitten in einem historischen Strukturwandel. Der Wachstumspfad aus der Krise ist mit einem Pfadwechsel verbunden. Die Transformation verlangt neue Strategien, neue Produkte und neue industrielle Wertschöpfung. Die Energie- und Mobilitätswende sowie die fortschreitende Digitalisierung erfordern eine grundlegende Umstellung der Industrien.
Das kann nur gelingen, wenn wir jetzt Weichen stellen, wenn wir jetzt für einen fairen Wandel kämpfen. Und es kann nur gelingen mit motivierten Belegschaften. Wir können nicht einfach das Ende der Krise abwarten. Unsere Befragung unter 250.000 Beschäftigten zeigt: Die Hälfte der Beschäftigten stellt fest, dass ihr Arbeitgeber nicht angemessen auf die digitale Transformation vorbereitet ist.
Der Strukturwandel darf nicht ganze Standorte vernichten
Das ist nicht länger tragbar. Wir müssen diese Herausforderungen angehen, und zwar gemeinsam, solidarisch und unverzüglich.
Daher fordert die IG Metall betriebliche Zukunftstarifverträge. Wir wollen einen guten Rahmen für betriebliche Vereinbarungen zu Investitionen, Beschäftigungsentwicklung und Qualifizierung. Die Arbeitgeber müssen mit den Beschäftigten über den Weg in die Zukunft reden. Erst nichts tun und dann verlagern oder den Betrieb schließen ist keine Strategie.
Viele Arbeitgeber stellen sich dieser Verantwortung, aber längst nicht alle. Unsicherheit über die Folgen der digitalen Transformation macht anfällig für einfache Lösungen, wie sie Populisten anbieten. Es passt einfach nicht zu den Hochglanzbroschüren der Unternehmen, wenn dem Strukturwandel ganze Standorte und Zehntausende Arbeitsplätze zum Opfer fallen sollen.
Und es bildet auch kein Vertrauen in staatliches Handeln, wenn dieselben Unternehmen mit Milliardenhilfen aus dem Konjunkturpaket Unterstützung finden, ohne sie zur Sicherung von Beschäftigung und Standorten zu verpflichten. Wir fordern daher auch mehr und länger wirkende Instrumente zur Beschäftigungssicherung, die diesen Strukturwandel durch genügend Zeit für personelle Anpassungen ohne Kündigung, verbunden mit entsprechender Qualifizierung, unterstützen.
Stunden zu reduzieren, statt Beschäftigte abzubauen ist die Devise. Hierfür steht die Forderung nach einer Vier-Tage-Woche. Arbeitgeber wären unmittelbar von Kosten entlastet, könnten Fachkräfte halten und jungen Menschen Ausbildung und Arbeit geben. Beschäftigte hätten sichere Arbeitsplätze und attraktivere Arbeitszeiten. Und damit sie es sich leisten können, gehen die Kosten für Sozialpläne in einen Teilentgeltausgleich.
Die Binnennachfrage stärken
Außerdem will die IG Metall dort, wo Beschäftigungssicherung das Gebot der Stunde ist, das auszuhandelnde Volumen einer Entgelterhöhung auch für Entgeltausgleiche nutzen. Diese Flexibilität bei der Verwendung des auszuhandelnden Entgeltvolumens nimmt Rücksicht auf die unterschiedliche Situation der Betriebe der Branche.
Manche Unternehmen, etwa in der Medizintechnik, konnten von einer veränderten heimischen oder wieder anziehenden weltweiten Nachfrage profitieren, während andere mit Auftragseinbrüchen zu kämpfen haben. Wir können und wollen diese Situation und die daraus entstehenden Belange der Beschäftigten nicht über einen Kamm scheren.
Eine Stabilisierung der Entgelte ist auch volkswirtschaftlich sinnvoll. Einer der wichtigsten Wege aus der Krise wird die Binnennachfrage sein. Wer ein gutes und sicheres Einkommen hat, gibt auch Geld aus. In einer Zeit, in der Menschen nach Stabilität, Zukunft und Sicherheit suchen, sollte das, wo immer möglich, auch finanziell geschehen. Und wir wissen: In großen Teilen der Metall- und Elektroindustrie ist das ohne Schwierigkeiten möglich.
Zukunft und Perspektiven muss es auch für Auszubildende und dual Studierende geben. Das beginnt mit dem Erhalt der Ausbildungszahlen. Hier zeichnet sich eine massive Reduzierung ab, wenn wir nicht dagegensteuern. Wir wollen keine Generation Corona. Das muss auch für die dual Studierenden gelten, die endlich in die Tarifverträge mit einzubeziehen sind.
Arbeitgeber müssen sich bewegen
In Ostdeutschland setzen wir uns mit Nachdruck für die Angleichung der Tarifstandards an das Westniveau ein. Wer behauptet, die IG Metall hätte sich von der 35-Stunden-Woche im Osten verabschiedet, liegt falsch. Wir befinden uns im 31. Jahr nach der deutschen Einheit - und noch immer sind ostdeutsche Beschäftigte schlechtergestellt als ihre Kolleginnen und Kollegen im Westen. Zuversicht und Stabilität werden so nicht entstehen. Und dabei brauchen wir doch gerade das.
Mit unserer Tarifrunde stellen wir das in den Mittelpunkt: Beschäftigungssicherung, Zukunftsperspektiven und stabile Entgelte. Was könnte besser in die Zeit passen? Wir fordern die Arbeitgeber auf: Jetzt muss Bewegung her, echte Verhandlungen jenseits inhaltsleerer Worthülsen. Vorschläge statt Vorschlaghammer. Fairness statt Vorteilnahme. Solange das nicht erkennbar ist, werden Tarifauseinandersetzungen und Warnstreiks nicht nur weiter in die Zeit passen, sondern geradezu geboten sein.
Jörg Hofmann ist seit Oktober 2015 Erster Vorsitzender der IG Metall. Der Diplom-Ökonom verantwortet die grundsätzliche Ausrichtung der IG Metall und die Tarifpolitik. Der Sozialdemokrat ist Mitglied des Aufsichtsrats bei Volkswagen und Bosch.
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